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13.01.2005Kinojahr 2004, Teil 1Rührende Kamele, Schocker aus dem Hindukusch und aus der Heiligen Schrift(MK) Welcher Film das Kinoereignis des Jahres 2003 war, ist natürlich klar. Gleiches gilt auch für die Jahre 2001 und 2002, deren Enden die meisten Kinogänger freudig entgegenfieberten, um das Lieblingsbuch der Deutschen endlich genießen zu können, ohne lesen zu müssen.Bis Sir Peter Jackson, der Held aller Enthusiasten des "Der Herrn der Ringe" die Episode Null ("Der Hobbit") dreht, kann jede Kinosaison nur eine langweilige Enttäuschung sein... Oder auch nicht? Schauen wir mal, was das Kinojahr 2004 so zu bieten hatte. Die Auswahl in diesem und den folgenden Artikeln ist rein subjektiv, es handelt sich schlicht um die Kinofilme, die ich im Lauf des vergangenen Jahres gesehen habe. Bei einigen weiß ich selbst nicht mehr, warum ich sie überhaupt sehen wollte, aber schließlich muß man ja nicht immer mit hochtrabenden Qualitätsansprüchen ins Kino gehen. Wichtiger sind das Kino-Ambiente und der Wille, sich zu amüsieren. Das Jahr 2004 hat trotz der bedauerlichen Tatsache, daß J.R.R. Tolkiens Epos bereits nach drei Büchern endet, doch einige sehenswerte, überaschende und diskussionswürdige Kinoereignisse gehabt. Hier kommen sie. Februar: Die Geschichte vom Weinenden KamelWie nennt man einen Film, in dem das Alltagsleben einiger Leute mit der Kamera festgehalten wird? Richtig: Doku-Soap. Erstaunlicherweise kann eine Doku-Soap interessant und liebenswert sein und auch noch künstlerisch so wertvoll, daß sie mit Preisen überhäuft wird.Dieser Film dokumentiert den Alltag einer mongolischen Familie, die ein Nomadenleben in der Wüste Gobi führt. Eines ihrer Kamele bringt ein Junges mit weißem Fell zur Welt, normalerweise ein glücksverheißendes Zeichen. Das junge Kamel wird jedoch von seiner Mutter verstoßen. Die letzte Hoffnung der Familie ist, daß sich eine alte Sage erfüllt, nach der Musik die Mutter so rühren kann, daß sie ihr Kind doch noch annimmt. So beschließt die Famile, einen Musiker von der fernen Provinzhauptstadt zu holen. Die beiden Söhne brechen zur langen Reise in die Stadt auf, während die restliche Familie alles tut, um das neugeborene Kamel am Leben zu erhalten. Das Unglaubliche geschieht: der Musiker erreicht mit den Söhnen das Zeltlager der Familie, seine Musik rührt die Kamelmutter tatsächlich zu Tränen. Sie nimmt ihr Junges an und die Menschen sind erleichtert und feiern ausgelassen. Wer hätte gedacht, daß ein weinendes Kamel ein so bewegender Anblick sein kann? Dieser Dokumentationsfilm ist der Erstling der mongolischen Regisseurin Byambasuren Davaa und des italienischen Regisseurs und Kameramanns Luigi Falorni. Er wurde u.a. vom FilmFernsehFond Bayern finanziell unterstützt und hat gleich eine ganze Reihe Preise auf mehreren Festivals gewonnen. Er fasziniert durch die Darstellung des ursprünglichen nomadischen Lebens in der Mongolei, das geprägt ist durch engen Familienzusammenhalt, ein intensives Verhältnis zu den Haustieren und die extremen Umweltbedingungen. Gelegentlich scheint auch in dieser Welt die Moderne durch, zum Beispiel in der Faszination, die das Satellitenfernsehen auf den jüngsten Sohn ausübt. Oder wenn man sich daran erinnert, daß die Familie ständig von einem ganzen Kamerateam begeleitet wird.
Februar: OsamaUm es vorweg zu nehmen: dieser Film ist möglicherweise der Schocker des Jahres. Dies würde man bei dem Handlungsmotiv zunächst kaum vermuten: Mädchen verkleidet sich als Junge und versucht, unter Männern unerkannt zu bleiben. Ich erinnere mich in der Tat an eine Kurzrezension, die diesen Film als eine Komödie bezeichnet, sicherlich die Kritiker-Fehlleistung des Jahres.Denn der Film erzählt eine Geschichte aus Afghanistan, noch während des Kriegs gegen die westlichen Allierten. Der einzige Mann einer Familie ist im Kampf gestorben. Nun stehen die Angehörigen, eine Großmutter, eine Mutter und eine etwa zwölfjährige Tochter, vor einem großen Problem: die Taliban lassen weder zu, daß Frauen einem Broterwerb nachgehen, noch daß sie ohne männliche Begleitung in der Öffentlichkeit unterwegs sind. Die drei Frauen sehen nur eine Möglichkeit, dem Hungertod zu entgehen: die Tochter muß sich als Mann ausgeben, um die Existenz der Familie zu sichern. Sie zieht Männerkleidung an und nennt sich Osama. Dadurch setzt sie sich großer Gefahr aus, denn ein derartiges Vergehen konnte unter den Taliban tatsächlich mit dem Tod geahndet werden. Der Zuschauer wird Zeuge ihrer Odyssee durch die afghanische Gesellschaft, ihrer Panik vor dem Entdecktwerden, ihrer traumatischen Erlebnisse und zuletzt ihrer Enttarnung und ihres unglücklichen Scheiterns. Sie erleidet ein typisches Frauenschicksal in Afghanistan: vor der Hinrichtung wegen ungebührlichen Verhaltens rettet sie ein greiser Imam, der sie zur Frau nimmt. In seinen Augen handelt er selbstlos und gnädig, rettet er sie doch vor dem sicheren Tod. Daß er als dominierendes Mitglied der afghanischen Stammesgesellschaft den Grund für ihre Not erst geschaffen hat, ist in seinem Bewußtsein ausgeblendet. Besonders beklemmend ist die Erkenntnis, daß man in diesem Film nicht die Vergangenheit sieht. In großen Teilen des ländlichen Afghanistan ist es auch heute nicht anders. "Osama" ist laut seinem Macher Siddiq Barmak "der erste Film aus Afghanistan nach dem Untergang der Taliban" und wurde mit Laiendarstellern gedreht. Eine seiner Auszeichnungen ist der Golden Globe 2004 in der Kategorie "Bester Ausländischer Film". Literaturempfehlung zum Thema Frauen in Afghanistan (svr): Siba Shakib, "Nach Afghanistan kommt Gott nur zum Weinen. Die Geschichte der Shirin-Gol", C. Bertelsmann 2001 (ISBN: 3-570-00634-4)
März: Die Passion ChristiIst das nur ein Trick von Mel Gibson, einen derart blutigen Streifen an der Zensur vorbeizuschmuggeln? Ganz offensichtlich nicht: Gibson ist ein tiefgläubiger Christ, der aus Überzeugung einen auch in Amerika umstrittenen Film produziert hat. Für viele Christen in den USA war "Die Passion Christi" eine Art Erweckung. Hollywood jedoch hat gleich zwei Gründe, dem Film skeptisch gegenüberzustehen: einerseits ist man hier liberaler als in großen Teilen der USA, andererseits ist hier kaum etwas wichtiger als die Gewinnmaximierung. Eine der goldenen Regeln Hollywoods lautet: produziere niemals einen Film in einer anderen Sprache als in Englisch. Gibsons Film ist durchgehend in Latein und Jesu Muttersprache Aramäisch gedreht. Wer etwas verstehen will, muß die Untertitel lesen (oder ist besser ein geübter Altsprachler).Der Film ist bemüht, einen Eindruck hoher Authentizität zu vermitteln, wozu die "Originalsprachen" beitragen sollen. Die Objektivität von "Die Passion Christi" ist, ja kann jedoch nur eine scheinbare sein. Bereits in der Auswahl der Quelle (wobei munter aus den Passionsgeschichten aller Testamente zusammengestückelt wurde) setzt die Willkür ein. Sie zeigt sich in der Betonung bestimmter Aspekte der Passionsgeschichte, insbesondere der Hinrichtung Jesu. Die Gewaltszenen bei seiner Folter und Hinrichtung sind von selten erreichter Detailfülle und Grausamkeit. Welchen Zweck kann der Filmemacher damit verfolgen, ausgerechnet diese Stellen der literarischen Vorlage so überzubetonen? Welche Auswirkungen die schockierenden Szenen auf gläubige Christen haben, insbesondere auf solche, die die Bibel wörtlich nehmen, läßt sich kaum abschätzen. Stark ist die Wirkung allemal: beeindruckte Zuschauer nutzten in Interviews Begriffe wie Offenbarung. Wie intensiv der Film diskutiert wird, sollen an dieser Stelle die über dreißig Links belegen, die google alleine im Internetangebot der ZEIT findet. Häufig taucht der Vorwurf einer antisemitischen Tendenz auf, die sich in der einseitigen Darstellung der Juden als Richter und Henker Jesu zeigt. Jeder Film, der Objektivität vortäuscht, und auf diese Weise dem Zuschauer vorgaukelt, aus dem Gesehenen unbeeinflußt eine Erkenntnis gewonnen zu haben, ist verlogen. Dies gilt für "Die Passion Christi" genauso wie für einen weiteren Film, den ich später im Jahr 2004 gesehen habe. Demnächst in diesem Kino: Teil 2 (Der Horrorklassiker, der Alte Klassiker, der Genre-Klassiker)
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