"Demokratie ist was zum Selbermachen"
Thomas Roth zum Thema: Krieg, Krise, Reformen? Deutschland - eine politische Zustandsbeschreibung

20.07.2003

Thomas Roth (WD) Thomas Roth, Chefredakteur und Leiter des ARD-Hauptstadtstudios sprach auf Einladung der Sparkasse Offenburg / Ortenau über seine Sicht einer Bestandsaufnahme des politischen Zustands.
Roth war 12 Jahre für die ARD im Ausland tätig, zunächst in Johannesburg / Südafrika, danach als Leiter des ARD-Studios Moskau. Seit Mai 2002 leitet er das Hauptstadtstudio und moderiert das Fernsehmagazin "Bericht aus Berlin".


Roth leitete seine Bestandsaufnahme mit einer Darstellung seiner Wahrnehmung Deutschlands nach langem Auslandsaufenthalt ein. Er verwies darauf, dass der Begriff "exotisch" nicht nur für ferne Länder und Kulturen gilt, sondern aus dem Ausland auch vieles in Deutschland "exotisch" wirkt. Für russische Journalisten sei es beispielsweise exotisch, dass in Deutschland eine ausführliche Debatte über Ladenschlusszeiten stattgefunden habe.

Laut Roth befinden wir uns in einer Zeit des Umbruchs. Im Vordergrund der Diskussionen stünden u.a. Haushalts- und Finanzprobleme und die Nachwirkungen der deutschen Einheit.
Es sei dringend erforderlich, diese Probleme zu relativieren: "Alle Länder, in denen ich gelebt habe, wären froh, wenn sie unsere Probleme hätten."
Die Entlassung Nelson Mandelas nach 28jähriger Haft und der Putschversuch 1989 während Gorbatschows Urlaub waren Ereignisse, die Roth miterlebte und die die Bedeutung der deutschen Probleme bei weitem überstiegen. "Es war der Beginn einen neuen Freiheit, aber auch riesiger Unsicherheit, die danach noch größer wurde."

In Deutschland gebe es beispielsweise die Schwierigkeit, die sozialen Sicherungssysteme, darunter auch die Rente, zu reformieren. Dennoch seien dies Probleme die bewältigt werden können. Zumindest gemessen and den Problemen anderer Länder. Im Russland der frühen 90er Jahre habe sich die Rente für einige Zeit gänzlich verabschiedet, was schwere Folgen für einen Teil der Bevölkerung gehabt habe. Niemand wünsche sich solche Probleme. Doch selbst in Russland wolle niemand trotz der Schwierigkeiten, zurück in die alte Zeit.

"Wir Deutschen neigen dazu, uns als den Nabel der Welt zu betrachten. Es fehlt das Talent, unsere Probleme im Verhältnis zu denen der Welt zu sehen."
Als Beispiel führte Roth den Streik in den ostdeutschen Bundesländern an. Es sei ihm ein Rätsel, wie man in Zeiten der Arbeitslosigkeit für die 35-Stunden-Woche streiken könne. In östlicher gelegenen Ländern käme niemand auf eine solche Idee. "Die Arbeitslosigkeit wird nicht bekämpft, wenn die Lohnkosten im Osten so teuer wie im Westen werden", meinte Roth. Kürzlich habe er in einem Interview Verdi-Chef Bsirske die Frage gestellt, welche Logik hinter dieser Gewerkschaftspolitik stecke. Bsirske habe die gewerkschaftlichen Forderungen damit begründet, dass Deutschland Exportweltmeister sei. Auch das sei in Beispiel für "Exotik" im deutschen Verhalten. Er habe einem russischen Kollegen von diesem Streik für die 35-Stunden-Woche erzählt, dieser sei erstaunt gewesen über die Veränderung, denn er habe die Deutschen immer als "fleißiges Volk" gekannt.

Ein großes Problem sieht Roth durch die Osterweiterung der EU auf uns zukommen, die aber zugleich eine große Chance seien. Wir müßten uns durchaus damit auseinandersetzen, dass in den östlichen Ländern der "Hunger nach Arbeit und Wohlstand" groß sei. Viele Menschen würden ihre Arbeit anbieten, schon jetzt gebe es viele polnische Handwerker, die für niedrige Preise bei einwandfreier Qualität Wohnungen renovierten. "Darauf müssen wir uns einstellen, sonst werden wir darauf eingestellt."

Der Wegfall der großen Ost-West-Machtblöcke hat laut Roth ein Vakuum hinterlassen. Durch das "Biotop des kalten Krieges" sei die Welt geordnet gewesen. "Ordnungsgrundlage war die Teilung der Welt und die Drohung mit Massenvernichtungswaffen, darunter Atomwaffen." Das habe sich durch das Ende des kalten Krieges geändert. Der 11.9.2001 habe die Welt noch einmal neu strukturiert. "Die Weltordnung hat sich verschoben, weil das Regulativ des kalten Krieges fehlte. Ein Angriff gegen den Irak hätte zu Zeiten des kalten Krieges nicht stattfinden können."
Sichtweisen verschieben sich, ein gravierendes Beispiel sei der sog. "Tankerkrieg" 1987. Schon damals war Saddam Hussein als blutrünstiger Diktator bekannt, trotzdem sei er zu dieser Zeit der "good guy" gewesen, der gegen Iran Krieg geführt habe, dessen Gottesstaat damals als Bedrohung angesehen wurde.
In Zeiten des kalten Krieges sei das Völkerrecht durchaus von den Machtverhältnissen, den Gegensatz zwischen Ost und West geprägt gewesen. Das Regulativ war die Macht der beiden Blöcke. "In den 70er Jahren in Helsinki war das Völkerrecht Gegenstand der machtpolitischen Auseinandersetzung, bei denen dann Stück für Stück Verbesserungen besonders im damaligen Ostblock herausverhandelt wurden", erklärte Roth.
Ein Fortschritt sei, dass das Thema Irak heute in der Welt und in der UNO anhand des Völkerrechts diskutiert wurde.
Der Kriegsgrund gegen den Irak habe sich immer wieder verändert. Zuerst sei mit der Bedrohung durch die Massenvernichtungswaffen argumentiert worden. Später ging es nur noch darum das Regime zu beseitigen. Wie immer man zu dem Krieg im Irak stehe, um ihn zu rechtfertigen sei offenbar gelogen oder auf Grund falscher, nicht belegbarer Fakten argumentiert worden, es sei auch eine "Münchhausengeschichte, bei der vom amerikanischen und britischen Geheimdienst mächtig viel gelogen wurde." Der britische Geheimdienst habe dabei auch aus der Arbeit eines Studenten abgeschrieben. [Siehe hierzu den Newsatelier-Artikel "Die peinlichen Vorkommen bei dem britischen Geheimdienst".]
Nach Informationen eines hochrangigen BND-Mitarbeiters, mit dem Roth persönlich gesprochen hatte, war der BND sehr gut über die Situation im Irak unterrichtet. Bei den geheimdienstlichen Dokumenten, die der BND an MI6 und CIA geliefert habe, habe man danach eine "wundersame Veränderung im Gebrauch des Materials festgestellt."
Dennoch sei die Einbettung Europas in ein transatlantisches Bündnis eine "conditio sine qua non", eine unabdingbare Voraussetzung im Hinblick auf die Sicherheit.

Was Roth im Hinblick auf Deutschland auffiel: "Wir delegieren alles irgendwohin. An Verbände, an den Staat, an Lobbys, an Parteien. Wir lassen andere machen und verlieren die Verbindung. Wir müssen uns bewegen." Die Welt werde immer komplizierter und komplexer. Die Verfügbarkeit von Informationen, aber auch die wirtschaftliche Konkurrenz sei global geworden und habe einen "Druck der Modernisierung ausgelöst. Wir haben keine andere Möglichkeit, als solche Entwicklungen zu nutzen und zu gestalten, statt sie aufzuhalten."

In der Politik sei hier ein Umdenken erforderlich. "In den letzten Monaten entstand zwar endlich eine Diskussion über die anliegenden Probleme, ansonsten dominierte aber das 'Mikado-Prinzip' - wer sich bewegt, hat verloren." Es habe keine konkreten Linien gegeben, wenig sei greifbar und sicher gewesen. Dies sei auch für die journalistische Tätigkeit ein Problem: "Es kam vor, dass abends eine Pressekonferenz stattfindet, und schon am nächsten Morgen werden die Aussagen dementiert, erweitert, es wird widersprochen, oder 'man hat es gar nicht so gemeint'. Eine Landschaft voller Widersprüche [...] Alles 'wabert' in einer fließenden Instabilität." Man habe Mühe, einzelne Positionen zuzuordnen, da sie sich immer wieder schnell veränderten. "Wahlkampfstrategien sind dynamisch, aber viele im Publikum haben nicht mehr durchgeblickt und die Orientierung verloren".
Als Beispiel für die widersprüchlichen Positionen führte Roth die Diskussion um die Steuerreform an. Im Wahlkampf habe die Union Steuersenkungen gefordert, die SPD habe dies als "nicht möglich, da nicht finanzierbar" abgelehnt. Heute sei es genau umgekehrt: die SPD fordere eine vorgezogene Steuerreform, während die Union diese als nicht finanzierbar ablehne.
"Was man abends gehört hat, hat sich morgens oft schon geändert - das ist alles ziemlich russisch", meinte Roth ironisch im Hinblick auf seine Zeit in Moskau. "Lass sie doch reden, sagen sie in Russland. Auf diese apathische Elastizität der Russen sollten und können wir nicht hinkommen." Es sei jedoch dringend erforderlich, dass dieses "Seifige" in der Politik korrigiert werde.
Das Kapital der Politik sei dasselbe wie das des seriösen Journalismus: Glaubwürdigkeit.
"Die Politik oszilliert so, dass viele WählerInnen das Grundvertrauen in die Politik verlieren."

Roth stellt fest, dass wir "zu Spezialisten in der Wahrnehmung von Einzelinteressen geworden sind." Als Beispiel führte er die Diskussionen um den Flughafen Berlin-Schönefeld an. Einerseits gebe es Proteste gegen die Vergrößerung, die Berlin benötige, andererseits wolle man mit Billigfliegern Urlaubsziele erreichen - die dortigen Interessen seien egal. Es komme darauf an mit solchen Widersprüchen umzugehen und sie aufzulösen.
"Mit der Zeit hat sich in den 70er Jahren ein sinnvolles Selbstbewusstsein der Bürger entwickelt." Dieses äußere sich auch in Protesten. "Die Köpfe wurden frei für Neues, die Nachkriegszeit war vergessen. Irgendwann kippte das um, Einzelinteressen standen im Vordergrund und der Blick für das gemeinsame Ganze ginge verloren.
Die Politik habe dieser Entwicklung Rechnung getragen und jeweils nachgezogen. "Wir haben uns in eine Lähmung begeben, die es schwer macht, etwas abzutragen."

Die Parteien haben laut Roth begriffen, dass mehr Eigenverantwortung notwendig ist. Das sei allen Parteien klar, sie verfügten über den gleichen Kenntnisstand. Das Problem: "Wie sag ich es meinem Wähler?" Die Befürchtung, dass die Wähler weglaufen, hindere die Parteien offenbar immer wieder daran, das Bekannte und Unumgängliche deutlich zu sagen.
Das Problem liege auch bei den Medien. Die sogenannten "Spin doctors" Spreng (für Stoiber) und Machnig (für Schröder), die den medialen Wahlkampf organisiert hatten, hätten diese Tendenz verstärkt. Er sei immer für Duelle der Kandidaten gewesen, sagte Roth. Herausgekommen sei dann aber neben dem großen "TV Duell" eine Folge von Miniduellen, die nicht immer sinnvoll gewesen seien und neue Erkenntnis produziert hätten. "Das ist eine multiplizierende Entwicklung im medialen Zeitalter, der sich auch die Öffentlich-rechtlichen nicht entziehen können."
Die politischen und gesellschaftlichen Probleme seien komplexer geworden, die Darstellung wesentlich schwieriger. In den 80er Jahren sei die Politik vergleichsweise ruhiger und stabiler gewesen, jetzt sei sie kurzatmiger.

Eine tragische Entwicklung sei der Fall Möllemann. "Keine Karriere kann das Leben wert sein", sagte Roth. Auch das FDP-"Projekt 18" sei ein Beispiel für die verspielte Glaubwürdigkeit der Politik gewesen, denn dieses Projekt habe "ein hohes Maß an Selbsthypnose" vorausgesetzt. Tragisch sei auch, dass Möllemanns politische Niederlage durch seinen Flyer ausgelöst wurde. "Der Flyer sollte Sentiments lostreten um Stimmen zu bekommen. Die Wähler haben das abgelehnt, das ist beruhigend."

Roth zog das Fazit, dass die Glaubwürdigkeit wieder gestärkt werden müsse: "Was gesagt wird, muss auch so gemeint sein. Dann kann der Wähler entscheiden."

Die Rolle der Opposition beschrieb Roth mit einem Zitat von Josef Joffe (Die ZEIT), der eines der Probleme darin sieht, dass "die CDU/CSU zwischen Opposition und Obstruktion hin und her flattert."
Roth mahnte ein aktiveres Demokratieverständnis an: "Demokratie ist was zum Selbermachen, und es lohnt sich, sich dafür einzusetzen."
Zur Zeit erleben wir nach Roths Ansicht "eine schwierige Landschaft in schwieriger Zeit."

Roth schloss mit einem Zitat von Roland Berger aus der ZEIT, das vielleicht auch als Anregung gegen Pessimismus dienen könne, Zitat: "Mich haben die Art der Italiener, mit dem Leben umzugehen, ihre Fähigkeit, aus wenigen, oft armseligen Ingredienzien Unglaubliches zu zaubern, und natürlich ihre Kunst und Kultur tief berührt. Seither habe ich einen Traum: dass die Deutschen eine zweite, eine italienische Seele hätten"



Wir danken Herrn Thomas Roth für die freundliche Unterstützung.

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