Recht in Kürze

04.05.2003

(HN) Aktuelle Entscheidungen deutscher Gerichte

BVG: Verfassungsbeschwerde alleinerziehender Mütter und Väter gegen die stufenweise Abschmelzung des Haushaltsfreibetrages erfolglos

Die 3. Kammer des Zweiten Senats hat mit Beschluss vom 18. März 2003 eine Verfassungsbeschwerde von insgesamt 96 alleinerziehenden Müttern und Vätern (Beschwerdeführer; Bf) gegen die stufenweise Abschaffung des Haushaltsfreibetrages bis zum Jahr 2005 nicht zur Entscheidung angenommen.

Zum Sachverhalt:
Durch das Zweite Familienförderungsgesetz vom 16. August 2001 (BGBl I S. 2074) wurden die Regelungen über den Haushaltsfreibetrag in § 32 Abs. 7 des Einkommensteuergesetzes (EStG) neu gefasst. Eine Neuregelung war erforderlich geworden, nachdem das BVerfG im Jahr 1998 die Regelungen über den Haushaltsfreibetrag für verfassungswidrig erklärt hatte, soweit sie in ehelicher Gemeinschaft lebende, unbeschränkt steuerpflichtige Eltern von der Gewährung des Haushaltsfreibetrages ausschlossen. Durch die von den Bf angegriffenen Änderungen im Einkommensteuergesetz wurde der Haushaltsfreibetrag für den Veranlagungszeitraum 2002 von bisher 2916 EUR auf 2340 EUR und für die Veranlagungszeiträume 2003 und 2004 auf 1188 EUR abgesenkt. Auch den solchermaßen gekürzten Haushaltsfreibetrag konnte aber nur erhalten, wer bereits im Veranlagungszeitraum 2001 die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt hatte (sog. Altfälle). Ab dem Jahr 2005 wird überhaupt kein Haushaltsfreibetrag mehr gewährt (§ 52 Abs. 40a EStG). Parallel dazu führte der Gesetzgeber u.a. einen einheitlichen Freibetrag für den Betreuungs- und Erziehungs- oder Ausbildungsbedarf ein, erhöhte das Kindergeld und ließ die Abziehbarkeit von Kinderbetreuungskosten außerhalb des sog. Familienleistungsausgleichs wieder zu. Die angegriffenen Regelungen haben ihrerseits bereits im Jahr 2002 wiederum Änderungen durch den Gesetzgeber erfahren.

Die Bf gehören als alleinerziehende Mütter und Väter zu dem durch § 32 Abs. 7 EStG generell begünstigten Personenkreis. Sie erhoben Verfassungsbeschwerde (Vb) gegen die stufenweise Abschmelzung und spätere Abschaffung des Haushaltsfreibetrages durch die Regelungen des Zweiten Familienförderungsgesetzes. Sie reagierten weder auf die Änderung dieser Vorschriften durch die späteren Änderungsgesetze noch warteten sie zuvor die Festsetzung der Einkommensteuer ab oder durchliefen ein finanzgerichtliches Verfahren. Sie rügten vornehmlich eine Ungleichbehandlung mit ehelichen Gemeinschaften, die in den Genuss des Splittingtarifs kämen, während der verminderten Leistungsfähigkeit Alleinerziehender nicht hinreichend Rechnung getragen werde.

In den Gründen der Entscheidung heißt es: Die Voraussetzungen für die Annahme der Vb liegen nicht vor. Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Vb ist unzulässig.

Eine Vb gegen ein Gesetz ist grundsätzlich nur zulässig, wenn der Bf durch die angegriffene Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist. Unmittelbare Betroffenheit liegt vor, wenn die angegriffene Vorschrift ohne einen weiteren vermittelnden Akt in den Rechtskreis der Beschwerdeführer einwirkt. Dies ist hier nicht der Fall.

Die Durchführung der angegriffenen Vorschriften setzt rechtsnotwendig und auch nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis besondere Vollzugsakte voraus. Die Einkommensteuer, deren Höhe u.a. durch die Höhe des Haushaltsfreibetrages beeinflusst wird, ist eine Veranlagungssteuer. Sie wird durch schriftlichen Bescheid festgesetzt. Der Bescheid wiederum löst die Fälligkeit der Steuer aus. Somit setzt das Einkommensteuergesetz rechtsnotwendig einen Vollzugsakt in Form der Festsetzung der Einkommensteuer durch Steuerbescheid voraus. Auch die Erhebung der Lohnsteuer als einer bloßen Unterart der Einkommensteuer vollzieht sich nicht unmittelbar kraft Gesetzes, sondern aufgrund besonderer Vollzugsakte.
Es greifen hier auch keine Ausnahmen zugunsten der Bf ein. Die angegriffenen Normen haben die Bf nicht bereits vor Erlass von Vollzugsakten zu später nicht mehr revidierbaren Dispositionen veranlasst. Außerdem hätten sie in zumutbarer Weise Rechtsschutz gegen die Steuerbescheide durch die Anrufung der Finanzgerichte erlangen und dort die Verfassungswidrigkeit der anzuwendenden Steuernorm geltend machen können.

Soweit sich die Vb gegen die Begrenzung der Haushaltsfreibetragsregelung auf Altfälle richtet, fehlt es auch am Rechtsschutzbedürfnis. Die angegriffene Regelung wurde nämlich zwischenzeitlich ersatzlos aufgehoben.

Beschluss vom 18. März 2003 - Az. 2 BvR 246/02 -

Karlsruhe, den 30. April 2003



BVG: Ausschluss des sog. biologischen Vaters vom Umgangsrecht und von der Berechtigung, die Vaterschaft eines anderen anzufechten, teilweise verfassungswidrig

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass § 1600 BGB mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit nicht vereinbar ist, als er den leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater eines Kindes (sog. biologischer Vater) ausnahmslos von der Anfechtung einer Vaterschaftsanerkennung ausschließt. Ferner hat der Erste Senat entschieden, dass § 1685 BGB mit Art. 6 Abs. 1 GG insoweit nicht vereinbar ist, als er in den Kreis der Umgangsberechtigten den leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater eines Kindes auch dann nicht mit einbezieht, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Beziehung besteht oder bestanden hat. Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, dem entsprechend bis zum 30. April 2004 verfassungsgemäße Regelungen zu treffen. Bis zur gesetzlichen Neuregelung sind gerichtliche Verfahren auszusetzen, soweit die Entscheidung von der Verfassungsmäßigkeit der §§ 1600, 1685 BGB abhängt. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen wurden aufgehoben und die Sachen an die Ausgangsgerichte zurück verwiesen.

Zum Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 1724/01 versuchte zunächst, die Vaterschaft für ein im November 1998 geborenes Kind anzuerkennen. Da ihm mitgeteilt wurde, die Mutter des Kindes wünsche dies nicht, beantragte er beim Amtsgericht festzustellen, dass er der Vater des Kindes sei, und führte aus, nach längerem Zusammenleben mit der Mutter sei er bei der Geburt des Kindes anwesend gewesen und habe die Nabelschnur durchtrennt. Das Kind sei ein Wunschkind gewesen. Er habe mit der Mutter alle Vorbereitungen für die Geburt getroffen und zum Beispiel das Kinderzimmer eingerichtet. Auch der Name des Kindes sei gemeinsam ausgesucht worden. An seiner Vaterschaft seien seitens der Mutter des Kindes niemals Zweifel geäußert worden. Die Mutter des Kindes bestritt sein Vorbringen und gab an, im Oktober 2000 habe ein anderer Mann die Vaterschaft anerkannt. Vor den Fachgerichten hatte die Klage des Beschwerdeführers keinen Erfolg. Sie führten u.a. aus, die Feststellung der Vaterschaft sei nur dann zulässig, wenn keine andere Vaterschaft bestehe. Dies sei aber nach der Vaterschaftsanerkennung eines anderen Mannes mit Zustimmung der Mutter nicht mehr der Fall. Die Feststellung einer anderweitigen Vaterschaft sei daher ausgeschlossen. Der Beschwerdeführer könne die Vaterschaft des Anerkennenden auch nicht anfechten, da lediglich der Mann, dessen Vaterschaft besteht, die Mutter des Kindes und das Kind selbst anfechtungsberechtigt seien. Der biologische Vater sei demgegenüber vom Gesetzgeber bewusst von einer Anfechtung ausgeschlossen worden.

Der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 1493/96 ist nach einer Blutgruppenuntersuchung aus dem Jahre 1990 zweifelsfrei der leibliche Vater eines 1989 geborenen Kindes, mit dessen verheirateter Mutter er - auch noch nach der Geburt des Kindes - eine Beziehung hatte und das Kind eine Zeitlang betreute. Da das Kind in eine bestehende Ehe hinein geboren wurde, ist der Beschwerdeführer zwar dessen leiblicher, nicht aber rechtlicher Vater (sog. biologischer Vater). Bis zum In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes bestimmte grundsätzlich die Mutter über den Umgang des Vaters mit seinem nichtehelichen Kind. Allerdings konnte das Vormundschaftsgericht dem Vater unter Kindeswohlgesichtspunkten ein Umgangsrecht einräumen (§ 1711 BGB a.F.). Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz hat der Gesetzgeber das gesamte Umgangsrecht neu ausgestaltet und in § 1685 BGB auch anderen Bezugspersonen für das Kind als den rechtlichen Eltern ein Umgangsrecht mit dem Kind eingeräumt, nicht aber dem biologischen Vater. Obwohl der Beschwerdeführer nach Trennung von der Mutter den Kontakt zu seinem Kind weiter aufrecht zu erhalten versuchte, blieb sein Begehren nach Umgang mit dem Kind, dem noch die Rechtslage vor In-Kraft-Treten des Kindschaftsrechtsreformgesetzes zugrunde lag, vor den Fachgerichten erfolglos.

Zum Recht des biologischen Vaters, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten, heißt es in den Gründen der Entscheidung:

Auch der leibliche, aber nicht rechtliche Vater eines Kindes steht unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Leiblicher Vater eines Kindes zu sein, macht diesen allein allerdings noch nicht zum Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Grundrechtsnorm schützt den leiblichen Vater aber in seinem Interesse, die Rechtsstellung als Vater des Kindes einzunehmen. Dieser Schutz vermittelt ihm kein Recht, in jedem Fall vorrangig vor dem rechtlichen Vater die Vaterstellung eingeräumt zu erhalten. Ihm ist jedoch vom Gesetzgeber die Möglichkeit zu eröffnen, die rechtliche Vaterposition zu erlangen, wenn dem der Schutz einer familiären Beziehung zwischen dem Kind und seinen rechtlichen Eltern nicht entgegensteht.

§ 1600 BGB ist mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG insoweit unvereinbar, als er dem biologischen Vater auch dann das Recht auf Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft vorenthält, wenn die rechtlichen Eltern mit dem Kind gar keine soziale Familie bilden, die es nach Art. 6 Abs. 1 GG zu schützen gilt. Hat ein Mann, ohne leiblicher Vater des Kindes zu sein, die Vaterschaft zwar anerkannt, lebt er aber mit der Mutter und dem Kind nicht zusammen, gibt es keinen hinreichenden Grund, dem leiblichen Vater zu verwehren, auch rechtlich als Vater anerkannt und in Pflicht genommen zu werden. Auch die Interessen von Mutter und Kind stehen dem nicht entgegen. Liegt eine Vaterschaftsanerkennung vor, kann der Gefahr, dass Mutter und Kind mit Anfechtungsverfahren überzogen werden, mit milderen Mitteln als dem völligen Ausschluss der Anfechtung durch den leiblichen Vater begegnet werden. So kann zum Beispiel vorweg die Glaubhaftmachung der leiblichen Vaterschaft verlangt und an bestimmte Voraussetzungen geknüpft werden. Auch Anfechtungsfristen helfen, dieses Risiko zu begrenzen.

Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG. Nach Angaben des Beschwerdeführers hat er mit der Mutter des Kindes dessen Namen ausgesucht, mit ihr auch noch in den ersten Lebensmonaten des Kindes zusammengelebt und gemeinsam mit ihr das Kind betreut. Das Kind soll dem Beschwerdeführer ähneln. Die Mutter bestreitet diese Angaben allein mit Nichtwissen. Nachdem während des Vaterschaftsfeststellungsverfahrens ein anderer Mann mit Zustimmung der Mutter ein Vaterschaftsanerkenntnis abgegeben hat, ist der Beschwerdeführer durch § 1600 BGB gehindert, die rechtliche Vaterschaft anzufechten, um selbst als Vater des Kindes festgestellt werden zu können, obwohl der durch das Anerkenntnis als Vater des Kindes geltende Mann nicht mit dem Kind und der Mutter zusammenlebt. Sein Ausschluss von der Anfechtungsmöglichkeit nach § 1600 BGB ist damit nicht durch den Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG gerechtfertigt und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, als leiblicher Vater seine Vaterschaft auch rechtlich feststellen lassen zu können.

Zum Umgangsrecht des biologischen Vaters heißt es in den Gründen der Entscheidung:

Der leibliche, aber nicht rechtliche Vater eines Kindes ist nicht Träger des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und kann darauf kein Recht auf Umgang mit dem Kind stützen. Auch er bildet aber mit seinem Kind eine Familie, die unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG steht, wenn zwischen ihm und dem Kind eine soziale Beziehung besteht, die darauf beruht, dass er zumindest eine Zeit lang tatsächlich Verantwortung für das Kind getragen hat. Art. 6 Abs. 1 GG schützt den leiblichen Vater wie das Kind in ihrem Interesse am Erhalt dieser sozial-familiären Beziehung und damit am Umgang miteinander. Es verstößt gegen Art. 6 Abs. 1 GG, den so mit seinem Kind verbundenen leiblichen Vater vom Umgang mit ihm auch dann auszuschließen, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient. Zwar vermittelt weder Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG noch Art. 6 Abs. 1 GG dem leiblichen, aber nicht rechtlichen Vater einen Anspruch auf Fortsetzung seines verantwortlichen Handelns gegenüber dem Kind. Auch bei Wegfall dieser Möglichkeit bleibt aber die zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind entstandene personelle Verbundenheit bestehen, die zudem noch getragen wird durch die verwandtschaftliche Verbindung zwischen Vater und Kind. Das Interesse des bisher familiär mit dem Kind verbundenen biologischen Vaters ebenso wie das Interesse seines Kindes am Erhalt dieser Beziehung zueinander wird in Nachwirkung des Schutzes, den zuvor deren familiäre Verantwortungsgemeinschaft erfahren hat, von Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Aus diesem nachwirkenden Schutz folgt ein Recht des biologischen Vaters auf Umgang mit seinem Kind jedenfalls dann, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient.

Gemessen daran war § 1711 Abs. 2 BGB a.F. mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar. Unter Berücksichtigung des Schutzes, den diese Grundrechtsnorm auch der Familienbeziehung zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind einräumt, konnte § 1711 Abs. 2 BGB a.F. verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden, dass auch der leibliche, aber nicht rechtliche Vater, der eine sozial-familiäre Beziehung zu seinem Kind gehabt hat, durch gerichtliche Entscheidung die Befugnis zum Umgang mit seinem Kind erhalten konnte, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient. Die auf § 1711 Abs. 2 BGB a.F. gestützten gerichtlichen Entscheidungen sind aber mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Die Gerichte haben bei ihren Entscheidungen den Schutz des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 1 GG verkannt. Sie haben dem Umstand, dass der Beschwerdeführer als leiblicher Vater des Kindes über einen längeren Zeitraum auch die Vaterrolle für sein Kind eingenommen und zu diesem eine Beziehung aufgebaut hat, keine Bedeutung beigemessen und deshalb nicht geprüft, ob § 1711 Abs. 2 BGB a.F. einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich ist.

Der Umstand, dass § 1711 Abs. 2 BGB a.F. durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz aufgehoben worden ist, macht es erforderlich, dass das Bundesverfassungsgericht auch das von den Gerichten anzuwendende neue Recht über den Umgang mit einem Kind der verfassungsrechtlichen Prüfung unterzieht. Andernfalls könnte nicht sichergestellt werden, dass die Gerichte im Verfahren 1 BvR 1493/96 umgangsrechtliche Entscheidungen treffen können, die der Verfassung entsprechen. § 1685 BGB in seiner Fassung durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz ist mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht in vollem Umfang zu vereinbaren. Mit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz hat das Umgangsrecht eine grundlegende Änderung erfahren. Beim elterlichen Umgangsrecht, das in § 1684 BGB geregelt ist, wird nicht mehr zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern unterschieden. Darüber hinaus ist in § 1685 BGB auch anderen Bezugspersonen für das Kind ein Umgangsrecht eröffnet worden. Beide Normen beziehen den leiblichen Vater eines Kindes nicht ausdrücklich in den Kreis der Umgangsberechtigten ein. Weder § 1684 BGB noch § 1685 BGB können dahin gehend ausgelegt werden, dass auch dem leiblichen Vater eines Kindes ein Umgangsrecht eingeräumt ist. Der Gesetzgeber hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Umgangsrecht auf diejenigen Bezugspersonen begrenzt sein soll, die die Norm (§ 1685 BGB) ausdrücklich nennt und von denen der Gesetzgeber annimmt, dass sie dem Kind üblicherweise besonders nahe stehen. Begründet hat er diese Begrenzung mit der Notwendigkeit, eine starke Ausweitung von Umgangsstreitigkeiten zu verhindern. Dies verbietet es, die in § 1685 BGB genannten Personenkreise im Wege der verfassungskonformen Auslegung um den leiblichen Vater zu erweitern. § 1685 BGB ist deshalb insoweit für unvereinbar mit Art. 6 Abs. 1 GG zu erklären.
Der Gesetzgeber ist gehalten, die Rechtslage bis zum 30. April 2004 mit der Verfassung in Einklang zu bringen. Dabei hat er bei Fristsetzungen für die Ausübung des Anfechtungsrechts sicherzustellen, dass auch diejenigen biologischen Väter, für die bisher die Anfechtung nicht möglich war, in den Stand versetzt werden, von dem Anfechtungsrecht Gebrauch zu machen.

Beschluss vom 9. April 2003 - 1 BvR 1493/96 und 1 BvR 1724/01 -

Karlsruhe, den 29. April 2003



BFG: Zur Begrenzung des Abzugs der Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung

Die zum 1. Januar 1996 in Kraft getretene zeitliche Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Mehraufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung bei einer Beschäftigung am selben Ort ist in den Fällen von fortlaufend verlängerten Abordnungen und beiderseits berufstätigen Ehegatten verfassungswidrig. Dies entschied der Zweite Senat des BVerfG und hob auf die Verfassungsbeschwerden (Vb) zweier Betroffener die zu Grunde liegenden finanzgerichtlichen Entscheidungen auf. Die Sachen wurden an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen. Andere Fallgruppen doppelter Haushaltsführung waren nicht Gegenstand der Entscheidung.

Zum Sachverhalt:
Bis zum In-Kraft-Treten des Jahressteuergesetzes 1996 bestand für den Werbungskostenabzug von notwendigen Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer beruflich veranlassten doppelten Haushaltsführung entstehen, keine zeitliche Begrenzung. Eine Zweijahresgrenze wurde erstmals zum 1. Januar 1996 in § 9 Einkommensteuergesetz (EStG) eingeführt (siehe Anlage). Sie gilt auch für Fälle einer bereits vor dem 1. Januar 1996 bestehenden doppelten Haushaltsführung. Ferner sind Trennungsgelder, die anlässlich einer doppelten Haushaltsführung eines Arbeitnehmers aus öffentlichen Kassen geleistet werden, nur insoweit steuerfrei, als sie die nach dem Jahressteuergesetz 1996 abziehbaren Aufwendungen nicht übersteigen. Zusammen mit anderen Regelungen bewirkt die Zweijahresgrenze, dass nach zwei Jahren doppelter Haushaltsführung bei einer Beschäftigung am selben Ort speziell die Aufwendungen für die Unterkunft am Beschäftigungsort vom Werbungskostenabzug ausgeschlossen sind.

Der Beschwerdeführer (Bf) zu 1. ist Universitätsprofessor, seine Ehefrau arbeitet als selbstständige Redakteurin und Lektorin. Die Eheleute leben seit 1980 in F. und haben dort ihren Hauptwohnsitz. Der Bf zu 1. wechselte 1994 von der dortigen Universität an die Humboldt-Universität zu Berlin, wo er eine kleine Wohnung bezog. Seine Ehefrau übte ihre ortsgebundene berufliche Tätigkeit weiter in F. aus. Das Finanzamt lehnte die steuerliche Berücksichtigung seines Aufwands für die doppelte Haushaltsführung über die Zweijahresgrenze hinaus ab. Die Beschäftigungsbehörde des Bf zu 2., eines Landesbeamten, ist das Polizeipräsidium K.. In den Jahren zwischen 1992 und 1999 war der Bf zu 2. auf Grund fortlaufend verlängerter Abordnungen in Berlin tätig, wo er einen zweiten Haushalt führte. Dem Bf zu 2. wurde für das Jahr 1997 Trennungsgeld unversteuert ausgezahlt. In dessen Höhe legte das Finanzamt in seinem Einkommensteuerbescheid 1997 der Besteuerung zusätzliche Einkünfte des Bf zu 2. aus nichtselbstständiger Arbeit zu Grunde.

Rechtsmittel blieben in beiden Fällen ohne Erfolg. Mit seiner Vb rügt der Bf zu 1. insbesondere einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG. Der Bf zu 2. sieht sich vor allem in Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Er werde schlechter behandelt als diejenigen, die für jeweils entsprechende Zeiträume an unterschiedlichen Beschäftigungsorten eingesetzt würden.

In der Begründung der Entscheidung heißt es: Verfassungsrechtlich geboten ist es, insbesondere im Einkommensteuerrecht die Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit auszurichten. Weiter muss der Gesetzgeber die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umsetzen. Für die Besteuerung nach finanzieller Leistungsfähigkeit kommt es nicht nur auf die Unterscheidung zwischen beruflichem oder privatem Veranlassungsgrund für Aufwendungen an, sondern jedenfalls auch auf die Unterscheidung zwischen freier oder beliebiger Einkommensverwendung einerseits und zwangsläufigem, pflichtbestimmtem Aufwand andererseits. Die Berücksichtigung privat veranlassten Aufwands steht nicht ohne weiteres zur Disposition des Gesetzgebers. Dieser hat bei seiner Entscheidung, ob er Aufwand steuermindernd berücksichtigen will, die unterschiedlichen Gründe, die den Aufwand veranlassen, auch dann im Lichte betroffener Grundrechte differenzierend zu würdigen, wenn solche Gründe ganz oder teilweise der Sphäre der privaten Lebensführung zuzuordnen sind.

Nach diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben sind beide Vb begründet. In den beiden vom Senat zu beurteilenden Fallgruppen der "Kettenabordnung" und der an verschiedenen Orten beiderseits berufstätigen Ehegatten lässt sich die Zweijahresfrist nicht damit begründen, dass die private Entscheidung für die Beibehaltung des alten Wohnsitzes nach Ablauf einer Übergangsfrist als entscheidender privater Veranlassungsgrund für eine doppelte Haushaltsführung anzusehen und deshalb der entsprechende Mehraufwand nicht einkommensteuerrechtlich zu berücksichtigen sei.

1. Die Abzugsbegrenzung ist im Fall einer "Kettenabordnung" mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Kennzeichnend für eine Abordnung ist, dass die Dauer oder Verlängerung der Tätigkeit des Arbeitnehmers an einem fremden Beschäftigungsort sich überwiegend nach Belangen des Arbeitgebers oder Dienstherrn bestimmt. Hinsichtlich des Maßes der beruflichen Veranlassung der Begründung und Beibehaltung der doppelten Haushaltsführung gibt es deshalb keine wesentlichen Unterschiede gegenüber einer nur zweijährigen doppelten Haushaltsführung und gegenüber einer doppelten Haushaltsführung an wechselnden Beschäftigungsorten. Bei einer "Kettenabordnung" kann der Arbeitnehmer die Dauer seiner auswärtigen Berufstätigkeit nicht eigenständig bestimmen und deshalb keine sinnvolle Umzugsplanung entwickeln. Die Zweijahresgrenze geht davon aus, dass sich der Steuerpflichtige in diesem Zeitraum dauerhaft an seinem Beschäftigungsort einrichten könne. Diese Unterstellung trägt bei einer Kettenabordnung die zeitliche Begrenzung der steuerlichen Abzugsfähigkeit der Mehraufwendungen nicht.

Die Kettenabordnung unterscheidet sich von der doppelten Haushaltsführung an wechselnden Beschäftigungsorten, die nicht der zweijährigen Abzugsbegrenzung unterliegt, nur durch den fehlenden Ortswechsel, erfordert aber ansonsten vergleichbare Arbeitsplatzflexibilität. Dass allein die Veränderung des Beschäftigungsortes bei diesen beiden Vergleichsgruppen das maßgebliche Kriterium für den Abzug von Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung über einen Zeitraum von zwei Jahren hinaus sein soll, lässt sich nicht sachlich begründen. Insoweit handelt es sich auch nicht um eine noch zulässige gesetzgeberische Typisierung.

2. Die Abzugsbegrenzung im Fall der beiderseits berufstätigen Ehegatten genügt nicht den Maßstäben des Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG. Nach Art. 6 Abs. 1 GG hat der Gesetzgeber Regelungen zu vermeiden, die geeignet sind, in die freie Entscheidung der Ehegatten über ihre Aufgabenverteilung in der Ehe einzugreifen. Eine Einwirkung des Gesetzgebers dahin, die Ehefrau "ins Haus zurückzuführen", wäre mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Alleinverdienerehe und Doppelverdienerehe sind verfassungsrechtlich gleichermaßen geschützt.

Danach müssen von Verfassungs wegen Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung bei der Bemessung der finanziellen Leistungsfähigkeit berücksichtigt werden, soweit es sich um zwangsläufigen Mehraufwand beiderseits berufstätiger Ehegatten handelt, der dadurch entsteht, dass ein gemeinsamer Wohnsitz bei dem Beschäftigungsort des einen Ehegatten besteht und zugleich die Unterhaltung eines weiteren Wohnsitzes durch die Berufstätigkeit des anderen Ehegatten an einem anderen Ort veranlasst ist. Auf die Gründe, aus welchen sich einer der Ehegatten für eine Berufstätigkeit an einem vom gemeinsamen Wohnort abweichenden Beschäftigungsort entschlossen hat, kommt es auch nach Ablauf von zwei Jahren doppelter Haushaltsführung nicht an. Art. 6 Abs. 1 GG verbietet es, die Vereinbarkeit von Ehe und Berufsausübung beider Ehegatten zu erschweren. Deshalb darf der Gesetzgeber bei beiderseits berufstätigen Ehegatten Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung nicht deshalb als beliebig disponibel betrachten, weil solche Aufwendungen privat (mit -) veranlasst sind. Eine pauschale zeitbezogene Abzugsbegrenzung widerspricht der Wertentscheidung des Art.6 Abs.1 GG, denn sie missachtet geschützte Gründe für die Beibehaltung einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung.

Beschluss vom 4. Dezember 2002 - Az. 2 BvR 400/98 und 2 BvR 1735/00 -

Karlsruhe, den 8. April 2003



BVG: Anlage zur Pressemitteilung Nr. 30/2003 vom 8. April 2003

§ 9 Einkommensteuergesetz: Werbungskosten

(1) Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen. Sie sind bei der Einkunftsart abzuziehen, bei der sie erwachsen sind. Werbungskosten sind auch (...)

5. notwendige Mehraufwendungen, die einem Arbeitnehmer wegen einer aus beruflichem Anlass begründeten doppelten Haushaltsführung entstehen. Eine doppelte Haushaltsführung liegt vor, wenn der Arbeitnehmer außerhalb des Ortes, in dem er einen eigenen Hausstand unterhält, beschäftigt ist und auch am Beschäftigungsort wohnt. Der Abzug der Aufwendungen ist bei einer Beschäftigung am selben Ort auf insgesamt zwei Jahre begrenzt.



BVG: Verfassungsbeschwerde eines Schießsportverbands gegen das neue Waffengesetz erfolglos

Die Verfassungsbeschwerde eines Schießsportverbands, die sich gegen Vorschriften des neuen Waffengesetzes richtet, wurde mit Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen. Damit wurde der weiter gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der das In-Kraft-Treten der Vorschriften des Waffengesetzes zum 1. April 2003 vorläufig verhindert werden sollte, gegenstandslos.

Zum Sachverhalt:
Das Gesetz zur Neuregelung des Waffenrechts vom 11. Oktober 2002 regelt unter anderem die Anerkennung überörtlicher Zusammenschlüsse schießsportlicher Vereine als Schießsportverband. Außerdem führt das Waffengesetz eine behördliche Genehmigung für die in den Verbänden erlassenen Schießsportordnungen ein. Die Genehmigung ist Voraussetzung für die Anerkennung als Schießsportverband. Von der Anerkennung als Schießsportverband hängen bestimmte Vorteile ab. Das neue Recht begründet nämlich für Mitglieder eines Schießsportvereins, der in einem anerkannten Schießsportverband organisiert ist, Privilegien für den nach dem Waffengesetz erforderlichen Bedürfnisnachweis für den Umgang mit Schusswaffen und Munition. Der beschwerdeführende Schießsportverband (Bf) sieht sich durch eine staatliche Anerkennungs- und Genehmigungspflicht insbesondere in seinen Rechten aus Art. 9 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG verletzt.

In den Gründen der Entscheidung heißt es: Die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde (Vb) liegen nicht vor. Sie hat weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung noch Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Regelungen, die das Schießsportvereinswesen unter dem Aspekt der Gefahrenabwehr ausgestalten, betreffen die Bf in ihrer Vereinigungsfreiheit. Zwar ist weder die Anerkennung noch die Genehmigung verpflichtend. Die Bf wird aber durch den faktischen Druck, sich der Präventivkontrolle zu unterwerfen, in ihrer Vereinigungsfreiheit beeinträchtigt. Die angegriffenen Vorschriften sind jedoch im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Der Gesetzgeber will mit der Neuregelung der Anerkennung als Schießsportverband einer festgestellten missbräuchlichen Ausnutzung des Bedürfnisnachweisprivilegs, das bisher Mitgliedern beliebiger Schießsportvereine gewährt wurde, und damit einhergehenden erheblichen Defiziten für die öffentliche Sicherheit begegnen. Dazu soll das Privileg auf Mitglieder solcher Verbände beschränkt werden, die nach Größe und Organisation Gewähr für eine ordnungsgemäße Ausübung des Schießsports in ihren Mitgliedsvereinen bieten. Diese Zielsetzung des Gesetzgebers ist legitim. Der Gesetzgeber überschreitet seinen Gestaltungsspielraum nicht, wenn er hier eine Regelungstechnik einsetzt, welche die Verbände veranlasst, sich von sich aus um eine Anerkennung und um die Erfüllung der Anerkennungsvoraussetzungen zu bemühen.

Der Gesetzgeber hat auch nicht die Grenzen eines angemessenen Ausgleichs zwischen dem grundrechtlich geschützten Freiheitsinteresse der Bf und dem verfolgten Gefahrenabwehrinteresse überschritten. Mit dem Bedürfnisprinzip will der Gesetzgeber angesichts erheblicher Missbrauchsgefahren für die Allgemeinheit erreichen, dass nicht mehr Waffen als unbedingt nötig in Privatbesitz gelangen. Mit der privilegierten Bedürfnisanerkennung für Sportschützen nimmt er Rücksicht auf die Interessen des organisierten Schützensports, beschränkt jedoch zugleich das Privileg auf solche Verbände, die für eine ordnungsgemäße Ausübung des Schießsports durch ihre Mitglieder Gewähr bieten. Dadurch erfüllt er seine Schutzpflicht gegenüber der Allgemeinheit, ohne der verbandlichen Betätigung nicht mehr den für einen effektiven Grundrechtsgebrauch erforderlichen Raum zu lassen. Will ein Schießsportverein für seine Mitglieder das Privileg eines erleichterten Bedürfnisnachweises für den Umgang mit Waffen und Munition in Anspruch nehmen, so kann von ihm verlangt werden, dass er sich Anforderungen unterwirft, die der Missbrauchsgefahr begegnen und die mit dem Privileg verbundene Rücknahme der staatlichen Kontrolle verbandsintern kompensieren sollen.

Auch mit dem Kontrollinstrument der behördlichen Genehmigung von Schießsportordnungen überschreitet der Gesetzgeber nicht die Grenzen eines verhältnismäßigen Ausgleichs zwischen dem Interesse der Bf und dem Schutzanspruch der Allgemeinheit. Mit dieser Regelung und deren Verknüpfung mit der Anerkennungsfähigkeit eines Verbandes verschafft sich der Staat eine Kontrolle darüber, ob die Verbände in ihren Sportordnungen die vom Waffengesetz und dessen Verordnungen gesetzten Grenzen einhalten. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Genehmigung beschränkt sich auf die waffenrechtsrelevanten Teile der Sportordnungen. Insoweit können die Verbände einer behördlichen Präventivkontrolle unterworfen werden, ohne dass damit unangemessen in den Gewährleistungsbereich ihrer Vereinigungsfreiheit eingegriffen würde.

Beschluss vom 1. April 2003 - Az. 1 BvR 539/03 -

Karlsruhe, den 4. April 2003



BAG: Außerordentliche Kündigung wegen des Verdachts der Unterschlagung - Zulässigkeit verdeckter Videoüberwachung

Die Klägerin war seit 1994 in einem von der Beklagten betriebenen Getränkemarkt tätig. Nachdem die Ursache steigender Inventurdifferenzen nicht gefunden wurde, installierte die Beklagte im März und im September 2000 zwei verdeckte Videokameras im Kassen- und Leergutbereich, wo auch die Klägerin arbeitete. Aus Videoaufnahmen von mehreren Tagen im November 2000 gewann die Beklagten den dringenden Verdacht, die Klägerin habe Gelder unterschlagen. Zu diesem Verdacht hörte die Beklagte die Klägerin an. Nach Zustimmung des Betriebsrates, dem die Videoaufnahmen gezeigt wurden, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgerecht. Die Klägerin bestreitet, Gelder unterschlagen zu haben. Sie ist der Auffassung, die heimlich gemachten Videoaufnahmen dürften nicht als Beweismittel gegen sie verwendet werden. Außerdem sei der Betriebsrat vor der Installation der Kameras nicht beteiligt worden. Die Beklagte macht geltend, sie habe ihren Verdacht nur durch die mit Zustimmung des Betriebsrates erfolgte verdeckte Überwachung beweisen können. Das Arbeitsgericht hat die Videoaufnahmen in Augenschein genommen und die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Die heimliche Überwachung mit Videokameras stellt einen Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsrecht des Betroffenen dar. Beweise, die durch solche Eingriffe erlangt werden, können einem Verwertungsverbot unterliegen. Das Gericht darf ein solches Beweismittel nur dann berücksichtigen, wenn besondere Umstände, zB eine notwehrähnliche Lage, den Eingriff rechtfertigen. Dabei ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Hier diente der Eingriff dem Beweis vermuteter, von der Klägerin heimlich begangener strafbarer Handlungen. Die Beklagte durfte die Klägerin deshalb mit Videokameras verdeckt überwachen, weil nach den Feststellungen der Vorinstanzen ein hinreichend konkreter Verdacht bestand, der nicht oder nur schwer mit anderen, das Persönlichkeitsrecht der Klägerin wahrenden Mitteln geklärt werden konnte. Die Kündigung ist auch nicht bereits deswegen unwirksam, weil, wie die Klägerin behauptet, der Betriebsrat vor der Installation nicht beteiligt wurde. Zwar hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Installation technischer Einrichtungen, mit denen das Verhalten der Arbeitnehmer überwacht werden soll (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG). Die - von der Beklagten bestrittene - Verletzung dieses Rechts führt hier aber schon deshalb nicht zu einem Verwertungsverbot im Kündigungsschutzprozeß, weil der Betriebsrat der Kündigung in Kenntnis des durch die Überwachung gewonnenen Beweismittels zugestimmt hat.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. März 2003 - 2 AZR 51/02 -


Hauptseite                                                                               Gesellschaft