Prager Frühling 1968

Vor 35 Jahren marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in Prag ein

15.08.2003

(HN/MS) 21. August 1968, 9:45 Uhr auf dem Schulhof eines Gymnasiums irgendwo im Ruhrgebiet kurz nach Ende der Sommerferien. Die Sonne scheint und es ist warm. Wie üblich spielen einige Schüler verbotenerweise Fußball auf dem Asphalt des Hofes. Der Lärm, den rund 1.200 Halbwüchsige zwischen 10 und 20 Jahren verursachen, bildet den üblichen Geräuschvorhang. Die Älteren paffen in der Raucherecke eine Zigarette nach der anderen.

Doch plötzlich, zunächst ist der Grund nicht erkennbar, ebbt der Lärm merklich ab und es bilden sich größere Gruppen, die miteinander diskutieren.

Einige Schüler halten ein Extrablatt der WAZ in der Hand, das druckfrisch vor der Schule verteilt wurde und vom Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten in die CSSR berichtet, der in der Nacht zum 21. August 1968 begonnen hatte.

Im darauf folgenden Unterricht, der um rund eine Stunde später als üblich beginnt, wird das Thema in allen Klassen behandelt und besprochen. Von einem möglichen Krieg ist die Rede, da zu diesem Zeitpunkt niemand durchblickt, was wirklich geschehen war und befürchtet wird, dass die Warschauer Pakt Staaten möglicherweise über die Tschechoslowakei auch nach Westdeutschland einmarschieren könnten.

Der Prager Frühling war eine große Geschichte in den westlichen Medien. Alexander Dubcek wurde zum, wenn auch tragischen, Helden gemacht.

Das Ende des Prager Frühlings fand eine noch viel größere Aufmerksamkeit. Sofort wurden die Vergleiche mit dem 17. Juni 1953 und dem niedergeschlagenen Aufstand in Ungarn im Jahr 1956 gezogen, wobei die entscheidenden Unterschiede nicht herausgearbeitet wurden. Die Entwicklung in Prag war im Gegensatz zu den Ereignissen in der DDR und Ungarn eine Entwicklung, die von oben betrieben worden war. Außerdem wurden der Aufstand 1953 von bereits im Land befindlichen Truppen niedergeschlagen, wohingegen es sich im August 1968 und in Ungarn um einen Einmarsch fremder Truppen von außen handelte, was letztendlich den Sturz der damaligen Regierungen zur Folge hatte. Ungarn war darüber hinaus vorher aus dem Warschauer Pakt ausgetreten.

Uns allen war klar, dass der Einmarsch in die CSSR dazu führen würde, dass die Moskauer Linie sich durchsetzen und die Reformen rückgängig gemacht werden würden. Kurz wurde ein mögliches Eingreifen der NATO in der CSSR auch öffentlich diskutiert, dies war jedoch sofort als eine durchsichtige Drohgebärde des kalten Krieges erkennbar und wurde von niemandem Ernst genommen.

Wohlgemerkt, wir schrieben das Jahr 1968! Im Mai brannten in Paris die Straßen und in Deutschland flogen Pflastersteine. In Vietnam tobte ein brutaler Krieg. In den USA wurden im April Martin Luther King und im Juni der Präsidentschaftskandidat Robert Kennedy erschossen. In Biafra starben täglich 10.000 Menschen bei einem blutigen Genozid. Im April wurde der Studentenführer Rudi Dutschke von einem Attentäter in den Kopf geschossen, die Verletzungen sollten einige Jahre später zum Tod Dutschkes führen. Ein Vertrauen in die in unseren Augen damals reaktionäre Politik der konservativen Kräfte weltweit war nicht gegeben. An unserer Schule wurde die Prügelstrafe noch öffentlich exerziert. Eine ganze Reihe älterer Lehrer verhehlte kaum ihre Sympathie zum Nationalsozialismus..

Die BILD nahm die Ereignisse sofort auf, um den rebellierenden Studenten und Schülern zu unterstellen, sie würden die Politik Moskaus unterstützen, was einige wenige auch taten aber die große Mehrheit nicht. Vielmehr verurteilte sie diese scharf.  Durch die sich überschlagenden Ereignisse im Land und weltweit waren der Prager Frühling und die Ereignisse um ihn herum schnell aus den Medien verschwunden.

Die Selbstverbrennung des 20-jährigen Studenten Jan Palach am 16. Januar 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz aus Protest gegen die Besetzung des eigenen Landes brachte das Thema für einige Tage wieder in die Schlagzeilen, bevor es nahezu gänzlich in der Versenkung verschwand. Dass es am Jahrestag des Einmarsches 1969 wieder einige Tote gab, interessierte wenig. Diese waren nicht mehr durch die Einmarschkräfte sondern durch einheimische Polizei und das Militär umgekommen.

Ein kurzes Aufflackern gab es noch einmal 1972 als in Prag die sowjetische Eishockey-Nationalmannschaft vom tschechischen Publikum während der Weltmeisterschaft bei jedem Spiel gnadenlos und lautstark ausgepfiffen wurde und die CSSR das Endspiel gegen die UdSSR gewann und Weltmeister wurde.

Die Geschichte

Im Januar 1968 wurde Dubcek nach massiven internen Querelen zwischen dem tschechischen und dem slowakischen Block zum Parteichef der Kommunistischen Partei der CSSR gewählt. Dies war durch Leonid Breschnew möglich geworden, der den Amtsvorgänger Antonin Novotny, persönlich nicht mochte. Novotny war noch durch Chruschtschow ins Amt gekommen und hatte sich verweigert, dessen Sturz zu begrüßen. Außerdem hatte er es in den 50er Jahren abgelehnt, sowjetische Truppen zu stationieren.

Dubcek galt als harmloser Parteiapparatschik aus der Provinz, der sich jedoch durch seine Aufrichtigkeit in seiner slowakischen Heimat eine Hausmacht geschaffen hatte.

Novotnys starre Politik hatte zu großer Unzufriedenheit in der tschechoslowakischen Bevölkerung geführt. Im April wird unter Oldrich Cernik eine neue Regierung in Prag gebildet. Den Bürgern wird Presse- und Versammlungsfreiheit garantiert und eine liberale Gesellschaft versprochen.

Die fehlerhafte Linie der Führung der KPC hat die Partei aus einem idealistischen Verband in eine Machtorganisation verwandelt, die eine gewaltige Anziehungskraft auf herrschsüchtige Egoisten ausübte, auf skrupellose Feiglinge und Leute mit schlechtem Gewissen.

Dies ist in einer Literaturzeitschrift am 27. Juni 1968 zu lesen. Verfasser des 'Manifestes der 2000 Worte' ist Ludvik Vaculik, ein bekannter Schriftsteller. Unterschrieben haben das Manifest weitere 70 Prominente Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller. Noch ein halbes Jahr vorher wären solche Worte im Ostblock nicht vorstellbar gewesen. Doch die neue Pressefreiheit machte es möglich.

Das Manifest ist mit keinem Wort gegen Dubcek und seinen Reformkurs gerichtet. Die Verwirklichung eines 'Sozialismus mit menschlichem Antlitz' wird zum Schlagwort des Prager Frühlings, der mit Begeisterung von der Bevölkerung mitgetragen wird und es entsteht eine gehörige Eigendynamik, die zum Rücktritt vieler Staatsanwälte, ZK-Sekretäre und Gewerkschaftsbosse führt.

Dubcek will jedoch keine Palastrevolution. Er distanziert sich öffentlich vom Manifest. Dies wird ihm vom Volk sehr verübelt und Hunderttausende setzen ihre Unterschrift unter das Manifest. In Moskau wird offen über Provokation, Aufruhr und Konterrevolution geredet

Besonders scharfe Worte kommen auch von Walter Ulbricht, der fürchtet, dass die Bewegung in die DDR überschwappen könne.

Bereits Mitte Juni 1968 erhält die tschechoslowakische Armee vom Oberkommando des Warschauer Paktes den Befehl, ihre westlichen Grenzen massiv zu sichern. Elf von zwölf tschechoslowakischen Divisionen werden an die Grenze zu Bayern verlegt. Die zwölfte steht als 'strategische Reserve' an der österreichischen Grenze. Trotz der Warnungen mehrerer seiner Mitarbeiter vor einer Invasion lässt Dubcek den Befehl ausführen

Im Juli wird Dubcek nach Moskau beordert und aufgefordert die Reformschritte wieder rückgängig zu machen. Dubcek lehnt ab.

In der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 überschreiten die Truppen des Warschauer Paktes (außer Rumänien) die Grenze zur CSSR. Die Entscheidung, keine eigenen Truppen entgegen zu stellen ist schnell getroffen. Diese sind ohnehin zu weit entfernt.

Das tschechoslowakische Volk übt einen gewaltlosen Widerstand aus. Sitzblockaden verzögern den Marsch über die Karpaten. In den Ortschaften werden die Schilder, die nach Prag weisen falsch aufgehängt, so dass große Truppenteile sich im Kreis bewegen oder auf im Wald endende Wege geleitet werden. All dies kann jedoch den Einmarsch in Prag nicht verhindern.

Dort geht der passive Widerstand gegen die Besatzer noch einige Tage weiter. Straßenschilder werden vertauscht, Hausnummern übermalt und an tausenden von Haustüren sind die Namen von Dubcek und den Reformern zu lesen, um die Suche nach diesen zu erschweren. Die Menschen diskutieren mit den Soldaten über die Begeisterung für den Prager Frühling, so dass die Truppen bereits nach zweieinhalb Tagen ausgewechselt werden müssen. Das führt dazu, dass noch mehr Menschen im Ostblock Authentisches über den Reformprozess in der CSSR erfahren.

Mit seinen Mitarbeitern wird Dubcek schon kurz nach dem Einmarsch nach Moskau gebracht. Sie werden voneinander isoliert und mit Drohungen und Falschinformationen dazu gebracht, ihre Unterschriften unter ein Kapitulationspapier, das 'Moskauer Protokoll', zu setzen.

Dubcek liest dieses Protokoll als gebrochener Mann nach seiner Rückkehr im Fernsehen öffentlich vor. Dies ist auch das Ende des Widerstandes in der Bevölkerung.

Mehr als 100 Menschen finden durch die Besatzung den Tod. Viele Intellektuelle und Reformer werden verhaftet. Die Reformen werden Schritt für Schritt wieder rückgängig gemacht.

Im Herbst 1968 wird die Breschnew-Doktrin verkündet, die besagt, dass kommunistisch regierte Gesellschaften nur eine begrenzte Souveränität besitzen.

Dubcek bleibt noch bis 1970 in verschiedenen Ämtern, zuletzt als einflussloser Parlamentspräsident. Im Juni 1970 wird er schließlich aus der Partei ausgeschlossen und arbeitet bis zu seiner Pensionierung 1986 streng abgeschirmt als Leiter des Fuhrparks eines Forstbetriebes in Bratislava.

1991 stellt die Prager Generalstaatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Landesverrates gegen Dubcek wegen Verjährung ein. Sein ehemaliger Weggefährte, der später nach Deutschland emigrierte Schachgroßmeister Ludek Pachmann, hatte ihn wegen seiner Unterschrift unter das 'Moskauer Protokoll' angezeigt.

Im Juni 1992 übernimmt er den Vorsitz der sozialdemokratischen Partei. Am 7. November des gleichen Jahres stirbt Dubcek an den Folgen eines Autounfalls im Alter von knapp 71 Jahren.

In der heutigen Tschechischen Republik wird von den Ereignissen, die 1968 stattfanden, kaum Notiz genommen.

Der Prager Frühling aus der Sicht eines DDR-Zeitzeugen

Wenn man 35 Jahre nach dem Prager Frühling gefragt wird, wie man das Jahr 1968 erlebt hat, gerät man erst mal zwangsläufig ins Grübeln. 35 Jahre - fast ein halbes Menschenleben -, aber die Erinnerungen kommen wieder.

Ich war damals 17 Jahre alt und Schüler der Erweiterten Oberschule, dem Gymnasium vergleichbar. Natürlich war ich in der FDJ und genauso natürlich verhielt ich mich zu meinem Staat, der DDR, loyal. Ich las die Reden von Walter Ulbricht, nicht so sehr weil ich sie für genial hielt, vielmehr weil es verlangt und erwartet wurde. Ich konnte aus dem Stand und ohne große Vorbereitung ein Referat über die Rolle der SED als der einzig führenden Kraft des Proletariats halten. Im großen und ganzen war ich das, was man gemeinhin einen im sozialistischen Geist erzogenen Jugendlichen nannte.

Aber dennoch war da etwas, was Jugendverband, Staat, Partei, Lehrer und Erzieher, nicht wahrhaben wollten. Die verschmähte und ach so widerliche, dekadente westliche Kultur hatte sich in uns eingenistet. Wir hörten Westradio und sahen Westfernsehen. Man muss sich vorstellen, dass wir, soweit im Besitz von Kofferradios, tagsüber und am Abend Radio Luxemburg lauschten, auf Kurzwelle, unter Kreischen und anderen Nebengeräuschen. In der Nacht gelang es sogar, einigermaßen deutlich den Saarländischen Rundfunk zu empfangen. Beatles, Stones, Kinks, die Lords, The Who waren uns also bekannt. Und dann waren da noch die Liedermacher, von Reinhard Mey über Ulrich Roski bis zu Insterburg & Co zogen wir uns alles rein, was reinzuziehen ging. Es war aber nicht nur Musik und Unterhaltung, die uns interessierten, es war auch das politische Tagesgeschehen. Wenn ich "wir" schreibe, dann meine ich die Kumpels aus meiner Klasse, mit denen ich einen großen Teil der Zeit verbrachte.

Die Aktuelle Kamera des DDR-Fernsehens wurde fast nie gesehen, die Tagesschau fast immer.

Ich habe das an den Anfang gestellt, um kurz die Situation zu beschreiben, in der wir uns befanden.

Als im Januar 1968 Dubcek Parteichef in der CSSR wurde, konnten wir nicht ahnen, was sich in den kommenden Monaten entwickeln würde. Aber dann setze sich in unserem Nachbarland etwas in Gang, was wir nicht kannten. Der Führer einer "Bruderpartei" wich vom Pfad aller kommunistischen Tugenden ab.

Dubcek verfolgte eine Politik der Ungeheuerlichkeiten, Rede- und Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, Abschaffung der Zensur. Natürlich wurde die Entwicklung in der CSSR von den DDR-Medien totgeschwiegen. Informationen gab es nur tröpfchenweise. Den Ernst der Lage konnten wir nur erahnen, wenn man im Neuen Deutschland kritische Kommentare zur Situation in der CSSR las. Man ging langsam dazu über, Dubceks Kurs zu verteufeln, ihm vorzuwerfen, die ehernen Prinzipien einer Bruderpartei der KPdSU zu verletzen. Genau diese Linie wurde in der FDJ und im Staatsbürgerkundeunterricht verfolgt.

Für uns war es aufregend. Ich kann mich an Tage erinnern, an denen ich mit Kumpels die Nacht durch diskutierte. Dubcek war wie ein Hoffnungsschimmer, dass sich auch bei uns etwas ändern könnte. Die Generation unserer Eltern stand dem Reformkurs in der CSSR eher kritisch gegenüber. Mein Vater, ein strammer Genosse, hielt Dubcek schlicht für einen Spinner. Und mit dieser Meinung war er unter seinen Altersgenossen nicht allein.

Hier fällt mir eine Episode ein, die typisch war für diese Zeit. 1968 wurde der 1. FC Nürnberg Fußballmeister unter Max Merkel. Ich hatte eine Großtante in Nürnberg und interessierte mich für Fußball im allgemeinen und für die Cluberer im besonderen. Also schrieb ich einen Brief an den 1. FCN und bat um ein Autogrammfoto der Mannschaft.

Mein alter Herr verbot mir, diesen Brief abzuschicken. Ich sei wohl verrückt geworden, in solch einer politischen Situation an einen kapitalistischen Fußballklub zu schreiben. Wenn das herauskäme, würde er Schwierigkeiten bekommen.

Dann der Tag des Einmarsches. Es war in den großen Ferien. Früh kam meine Mutter zu mir und informierte mich. Ich weiß noch, dass ich knurrte "diese Schweine". Wie andere auch, ballte ich die Faust in der Tasche, tat das aber vorsichtig, damit es nicht auffiel. Das war das Schizophrene in uns. Man wusste, dort geschieht schreiendes Unrecht, im privaten Kreis nennt man das auch so, aber nach außen verhält man sich linientreu. Bis auf die wenigen, die über diesen Schatten sprangen, waren wir das perfekte Produkt unserer Erziehung.

Ganz schlimm wurde es am ersten Schultag nach den Ferien. Ausgerechnet an diesem Tag stand Staatsbürgerkunde bei Herrn Grohmann, dem Parteisekretär der EOS (Erweiterte Oberschule), auf dem Stundenplan. Er wollte von uns wissen, was wir vom Einmarsch der "Bruderarmeen" in die CSSR hielten.

Der erste, der Stellung nehmen sollte, war ich. Schrecklich, ich wusste nur, dass ich jetzt keinen Fehler machen durfte. Also laberte ich herum, jedes Wort überlegend. Ich rang mich zu ganz vorsichtiger Kritik durch, indem ich ungefähr sagte, dass eine solche Maßnahme vielleicht doch nicht notwendig gewesen wäre. Eine echte Diskussion kam natürlich nicht zustande. Die Monate danach waren von einer systemgemäßen Aufarbeitung der Geschehnisse geprägt. Dubcek war der Verräter am Kommunismus, dem man das Handwerk legen musste. Sein 1969 an die Spitze gestellter Nachfolger, der linientreue Gustav Husak, wurde als Retter der CSSR gepriesen. Das Problem war beseitigt, man ging zur Tagesordnung über.


Anmerkung der Autoren: Der Prager Frühling wurde nach dem seit 1946 stattfindenden gleichnamigen Musikfestival in Prag benannt.


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