04.11.2006

7. Osnabrücker Multiple-Sklerose-Symposium

(VS) In diesem Jahr fand am 31. Mai das 7. Osnabrücker Multiple-Sklerose-Symposium in der Stadthalle Osnabrück statt. Die Begriffe "Neues und langjährig Etabliertes" kennzeichneten sowohl den inhaltlichen wie auch formalen Rahmen dieser Veranstaltung. Erstmalig zeichnete von ärztlicher Seite Herr Professor Dr. Stögbauer als neuer Chefarzt der Neurologischen Klinik des Klinikums Osnabrück zusammen mit Frau Dr. Windhagen für die Organisation des Symposiums verantwortlich. Herr Privatdozent Dr. Haller, der das jährliche MS-Symposium in Osnabrück vor sieben Jahren ins Leben rief, bereicherte es noch einmal durch Vortrag und Moderation. So konnte den Betroffenen und auch Ärzten eine Fülle von Informationen zu etablierten wie neuen Therapien geboten werden.

Zunächst hießen die Veranstalter des Symposiums, Herr Prof. Stögbauer für die Neurologische Klinik im Klinikum Osnabrück GmbH und Frau Schütt als Vorsitzende der "Multiple Sklerose Kontaktgruppe Stadt und Landkreis Osnabrück" die zahlreichen Besucher des Auditoriums willkommen.

In einem ersten Vortrag referierte Frau Dr. Susanne Windhagen vom Klinikum Osnabrück dann zum Thema "Aktuelles aus der MS-Therapie". Hierbei ging es zunächst um die Frage der Zulassung von Tysabri (früher Antegren). Bei dieser Medikation zeigt sich, daß sie die Transmigration (Überwindung der Bluthirnschranke) durch schädigende Teile des Immunsystems und somit den Beginn der Entzündungskaskade im Gehirn sowie Adhäsionen verhindert (deutliche Besserungen bei MRT, Schubhäufigkeit, Behinderung). So wurde es außergewöhnlicherweise bereits im November 2004 von der Food and Drug Administration (FDA) in den USA zugelassen und weitere Studien zur Behandlung bei MS initiiert. Dabei zeigten sich am 28.02.2005 bei zwei Patienten Wesensänderungen bei gleichzeitiger Progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie (PML), was umfangreiche Nachuntersuchungen zur Folge hatte; es zeigte sich ex post, daß diese Applikation seit 2002 bei Patienten mit Morbus Crohn auch zu PML führte. Die Untersuchung von 3.116 Patienten, die jemals Antegren bekommen hatten, ergab ein Risiko von 0,1 %, PML bei Gabe von Tysabri über 18 Monate zu bekommen. Daraufhin erlaubte die FDA im Februar 2006 weitere Studien. Die Wiederzulassung für die USA und auch in Europa wurde Anfang 2006 nur beim schubförmigen Verlauf ohne Kombination bei Multiple Sklerose empfohlen; nach der neuesten Pressemitteilung erhält Tysabri nunmehr die EU-Zulassung zur Behandlung schubförmig-remittierender Multiple Sklerose. Da letztlich der Zusammenhang zur PML nicht geklärt ist, soll Tysabri als Mittel bei sonstigem Therapieversagen bzw. bei Schwerstfällen eingesetzt werden.
Ein weiterer Schwerpunkt des Vortrags war der frühe Therapiebeginn. Ex post sind früheste Schädigungen sicher nachweisbar, ein möglichst früher Therapiebeginn dämpft deren Qualität. So zeigten die Champs-Studie (Avonex) von 2000, die Etoms-Studie (Rebif) von 2001 und die Benefit-Studie (Betaferon) von 2005 bei möglichst frühem Einsatz der Medikationen eine positive Wirkung auf MRT- und klinischen Befund, sowie eine signifikante Verzögerung eines zweiten Schubes. Voraussetzung ist das Ausschleichen vorheriger Medikationen über drei bis sechs Monate, bei Interferonen über wenige Wochen. Unbekannt ist noch, ob eine höherfrequente und/oder höherdosierte Therapie weitere Vorteile bringt und auch, welche Folgen die Therapien langfristig haben. So läuft bereits eine Folgestudie Benefit, deren Ergebnisse 2008 erwartet werden.
In einem dritten Punkt trug Frau Dr. Windhagen zur Plasmapherese vor. Diese Entfernung von zirkulierenden Antikörpern ist keine neue MS-Therapie. Ein Einsatz wird nur bei schweren nicht therapierbaren Schüben bei MS-Patienten vom Typ II. vorgenommen, deren Identifikation jedoch sehr aufwendig ist. Nicht eingesetzt wird die Plasmapherese bei Patienten mit chronisch-progredienter Verlaufsform oder als Prophylaxe. Die sog. Impfung gegen MS (T-Zell-Impfung) wird intensiv erforscht; sichere Ergebnisse werden frühestens in drei Jahren erwartet.

Herr Dr. M. Heibel, Chefarzt der Sauerlandklinik in Hachen, beschäftigte sich mit der Behandlung der Spastik bei MS; hierbei brachte er die besonderen Erfahrungen seiner Klinik mit ein.
Spastik tritt im Rahmen eines Syndroms auf, mit Folgen für die Steh-, Geh- und Sitzfähigkeit sowie Stimmung und Sexualität der Patienten hin zur Isolation. Die Behandlung in der Sauerlandklinik erfolgt dabei im Team aus Patient, Therapeuten (sind die besten Informationsgeber), Pflegemitarbeitern und Ärzten als Dauertherapie. Anhand des klinischen Bildes wird ein Behandlungsziel aufgestellt - der Behandlungsplan versucht, spastikverstärkende Gründe auszuschalten (z.B. Blasenentzündung, Verstopfung, Schmerzreize, Wärme/Kälte, Angst vor Aktion).
Als Medikationen werden systematisch Baclofen, Tizanidin, Flupirtin, Tetrazepam, L-Dopa, Gabapentin oder Tolperison gegeben, lokal werden z.B. Botox, Baclofen oder Volon A gegeben. Dazu kommen in der Physiotherapie Dehnung, Kräftigung und Lagerung; neben der Ergotherapie erfolgt Massage unter Einwirkung von z.B. Kälte. Besonderer Wert wird auf die Anpassung der Hilfsmittel gelegt (z.B. Gehstock, Rollstuhl u.ä.).
Sehr unterschiedliche Erfolge auf die Spastik verzeichnet die Sauerlandklinik bei der Gabe von Haschisch, insgesamt aber eher keinen Erfolg. Auf Kortison lässt sich insbesondere bei frischen Entzündungen leider nicht verzichten, alle Vortragenden sind sich aber darüber einig, hieraus keine Dauertherapie zuzulassen. Als sehr positiv wirkende Therapie nannte Herr Dr. Heibel die Hippotherapie (Physiotherapie auf einem geführten Pferd unter Anleitung eines Krankengymnasten); wegen der sehr hohen Kosten muss hierauf leider oft verzichtet werden.

Im Zuge des Bologna-Prozesses wurde Ende der 1990er Jahre eine Initiative zur Harmonisierung des Hochschulwesens in Europa gestartet. Hieraus ergab sich auch die Möglichkeit, Physiotherapie zu studieren. Herr Prof. Dr. Zalpour ist hier für die Fachhochschule Osnabrück federführend.

Herr Dr. Zalpour erläuterte die Möglichkeiten der Physiotherapie in der Behandlung der Multiplen Sklerose. "Physiotherapie ist die äußerliche Anwendung von Heilmitteln. Sie orientiert sich bei der Behandlung sowohl an den natürlichen, chemischen und physikalischen Reizen der Umwelt (z.B. Wärme, Druck, Strahlung, Elektrizität), als auch an den anatomischen und physiologischen Gegebenheiten des Patienten. Dabei zielt die Behandlung auf natürliche, physiologische Reaktionen des Organismus (z.B. Muskelaufbau, Stoffwechselanregung) zur Wiederherstellung, Erhaltung oder Förderung der Gesundheit" (nach Wikipedia). Dementsprechend beschrieb Herr Prof. Zalpour die Physiotherapie gegliedert als organspezifische Trainingskonzepte, manuelle Therapien, neurophysiologisch orientische Techniken, Entspannungstechniken und Trainingskonzepte zur Vermeidung weiterer sowie Behandlung vorhandener körperlicher Schäden beim Menschen. Hierbei richtet sich die Therapie nach Plus- bzw. Minus-Phänomänen (z.B. Hypertonie vs. Parese). Aus der Fülle von Studien zur Physiotherapie weltweit stellte Herr Dr. Zalpour evidenzbasierte (wissenschaftliche) Therapien anhand von sechs Studien vor. Hierbei zeigen alle Studien Verbesserungen von MS-Patienten bei unterschiedlichsten Behandlungsvarianten situationsangepasst (z.B. unter Schub, zuhause, in der Praxis). Jeder Patient ist individuell und muss individuell behandelt werden; dementsprechend erbringt beim Schub die angepasste Behandlung positive Ergebnisse. In diesem Zusammenhang steigert "Aerobic" die Ausdauer und Mobilität und vermindert Behinderungen.

Herr PD Dr. M. Stangel von der Medizinischen Hochschule Hannover referierte zum Thema: "Mitoxantron: wann, wie lange, was dann?" in einem wegen schlechter Datenlage eher persönlichen Vortrag.
In der medikamentösen Therapie der MS spielen vor allem zwei Formen eine besondere Rolle: die Immunmodulation und die Immunsuppression; hierbei geht es zum ersten um ein Umpolen der Fähigkeiten des Immunsystems und zum zweiten um die Unterdrückung des gesamten Immunsystems. Eine hierbei wichtige Medikation ist das Mitoxantron, welches als Zellgift das Wachstum von Zellen (Teilung) hemmt. Nachdem sich vor ca. vier Jahren in der sog. MIMS-Studie vor allem klinische Verbesserungen und nach Absetzung dieser Medikation weitere Verbesserungseffekte bei den Probanten zeigten, ist Mitoxantron heute ein häufig eingesetztes Immunsuppressivum, welches als Eskalationstherapie nach Einsatz von Interferon gegeben wird. Voraussetzung ist dafür ein sekundär-progredienter oder progressiv-schubförmiger Krankheitsverlauf mit einem EDSS von drei bis sechs (also nicht auf einen Rollstuhl angewiesene Patienten), bei dem zwei Schübe in 18 Monaten vorlagen und ein Versagen oder Unverträglichkeit der Vortherapie gegeben ist (an der Medizinische Hochschule Hannover jedoch keine verbindliche Regel).
Als Nebenwirkungen wurden beobachtet: Übelkeit, Haarausfall, Menstruationsstörungen, Amenorrhoe, Harnwegsinfekt, Knochenmarksuppression, Leberschädigung, Herzmuskelschwäche sowie akute myeloische (das Knochenmark betreffende) Leukämie bei einer sehr geringen Wucherung der weissen Blutkörperchen im Blut. Die Lebenszeitdosis dieser Therapie betrug bis 2005 140 mg/m2 Körperoberflähe (KOF), hernach 100 mg/m? KOF, bei regelmäßiger Herzultraschalluntersuchung. Eine Empfehlung für die Anwendungsdauer gibt es nicht. Auch ein Einsatz als Kombinationstherapie, um die Gabe zeitlich zu strecken, ist bis heute nicht bekannt. Bei stabilem Krankheitszustand des Patienten nannte Herr Dr. Stangel individuell die Dosisreduktion bis hin zur De-Eskalation.
Dementsprechend bekräftigte Herr Dr. Stangel die Gabe von Mitroxantron bei einer aggressiven Multiple Sklerose mit chronisch-progredientem Verlauf. Die Dauer der Therapie sei von den Nebenwirkungen limitiert und ende bei stabilem Zustand der Patienten hin zu einer Deeskalation. In der Folge könne eine geringere Dosis, die Basistherapie oder nichts gegeben werden. Die noch bestehende Lücke zwischen den Therapien mit Interferon und Mitoxantron wird wohl das Tysabri schließen. Sonstige Kombinationen sind wenig evident. Ein Unterschied in der Verträglichkeit von Mitoxandron bei Männern vs. Frauen besteht nicht.
Weitere Eskalationen können über Cyclophosphamid (Zellgift), Cortison Pulstherapie erfolgen, oder zurück zur Basistherapie führen, bzw. die Einstellung jeglicher medikamentöser Therapie zur Folge haben. Die Kombination mit Cortison hat über fünf Jahre zu keinen schwerwiegenden Nebenwirkungen geführt. In der Entwicklung befindet sich ersatzweise Pixantron, welches besonders herzschützend ist.

In seinem Vortrag: "Neues und Altes aus der MS-Therapie" begann Herr Dr. Haller sein mit Spannung erwartetes "Resümee nach über 30 Jahren MS-Medizin". Dabei nannte Dr. Haller gleich zu Beginn die aus seiner Erfahrung wichtigen fünf goldenen Regeln für einen MS-Patienten:
  1. MS-kompetenter Arzt
  2. Selbstkompetenter Patient
  3. Früher Therapiebeginn
  4. Behandlung der Nebenwirkungen
  5. Nicht zu lange an einer Therapie festhalten, die nicht wirkt.
Im Gegensatz zu der Zeit vor 80 Jahren gibt es heute keine Todesfälle durch Multiple Sklerose mehr. Der Umgang mit der Krankheit seither war aber bis vor wenigen Jahrzehnten von großer Unsicherheit geprägt. In einem kurzen geschichtlichen Abriss ging Dr. Haller besonders auf den Film "Ich klage an" ein, einen Film der NS-Zeit, 1941 von Wolfgang Liebeneiner gedreht, in dem die Frau eines Arztes an Multiple Sklerose erkrankt. Ein Ausschnitt hieraus wurde gezeigt, in dem der behandelnde Arzt dem Ehemann riet, die Diagnose zu verschweigen; es galt lange Zeit diese Möglichkeit, die MS hinzunehmen und auf zukünftige Entwicklungen in der Medizin zu hoffen. Leider ist es auch heute noch üblich, von Seiten der Krankenkassen MS-Patienten abzuqualifizieren. Der vom Arzt vorgenommene Krankheitsverlauf ist entscheidend. Schubförmig remittierend und sekundär-progredient sind die einzigen Krankheitsbeschreibungen, die nicht dazu führen, daß der MS-Patient von der Krankenversicherung abgeschrieben wird mit der Folge, daß Therapien abgelehnt werden.

Herr Dr. Haller skizzierte die Entwicklungen der MS-Forschung im Laufe des 20. Jahrhunderts und stellte die relevanten Ärzte und Forscher vor, bis dann endlich das erste Medikament gegen Multiple Sklerose, Copaxone, entwickelt war. 1993 dann wurde das Schicksalsjahr, indem drei weitere vielversprechende Medikamente (Interferone) eingesetzt wurden; hinzu kam die Nutzung der Kernspintomographie als diagnostisches Mittel.
Heute kennt man 4 Patienten-Typen (unterschiedliche Demyelinisierungsmuster), von denen die Typen eins und zwei ca. 70% aller Patienten betreffen. Die Untertypen eins und zwei (entzündlich) sowie drei und vier (degenerativ) brauchen unterschiedliche Medikationsentsprechungen, die jedoch noch nicht klar ermittelt sind (ein Umbruch ist hier gerade im Gang).
Die Frage der Behandlung ist immer die nach Eskalations- vs. Induktionstherapie. Die Einführung einer neuen Therapie (Induktion) findet ihre Begründung bei einem zu erwartenden ungünstigen Krankheitsverlauf; hierbei kommt es auf die Vorhersage der nächsten Verschlechterung an. Dem entgegen bedeutet die Eskalationstherapie die Steigerung der vorhandenen Therapie auf ein höheres Niveau.
Die Prognose einer MS bezüglich der Behinderung oder Lebenserwartung der Patienten ist heute sehr gut. Die positiven Wirkungen aller bisherigen Medikamente werden dabei durch Tysabri noch einmal deutlich übertroffen; so ist die Wirkwahrscheinlichkeit gegenüber der sonst bekannten Therapien annähernd verdoppelt (bei 3%-6% der Patienten wirkt Tysabri aber nicht wegen der Bildung von Antikörpern). Aus den Erfahrungen von 16 Jahren MS-Behandlung mit Interferonen kann heute ein rechtzeitiger Therapiebeginn Verschlechterungen 5-15 Jahre nach hinten verschieben. Die zukünftige Entwicklung liegt in der Kombinationstherapie, also der Frage, ob nicht mehrere Medikamente gemeinsam im Einzelfall mehr erreichen als die Therapie mit nur einem Medikament.

Das 8. Osnabrücker MS-Symposium findet voraussichtlich am 30.05.2007 statt.

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