14.08.2005

6. Osnabrücker Multiple-Sklerose-Symposium

(VS) Am 25.05.2005 fand in der Stadthalle Osnabrück, wie üblich am letzten Mittwoch im Monat Mai, das jährliche Osnabrücker Multiple-Sklerose-Symposium statt. Die Veranstaltung war für alle Interessierten zugänglich, so dass in der abschließenden "Schlauen Runde" eine lebhafte Diskussion zwischen Experten, Betroffenen und behandelnden Ärztinnen und Ärzten stattfand. Diese zu den größten zählende in Niedersachsen stattfindende MS-Veranstaltung führte MS-Erkrankte aus über 200 km Umkreis zueinander.

Dabei wurde herausgestellt, dass es ein einzelnes, "richtiges" Medikament zur Behandlung der MS noch nicht gibt. So entstand die Forderung nach individuell maßgeschneiderten medikamentösen Therapien. Das Symposium befasste sich mit den Voraussetzungen hierfür, wie der richtigen Beurteilung des zu erwartenden Krankheitsverlaufes, dem zielgerechten Therapiebeginn und der ausreichenden Verlaufbeobachtung durch computergestützte Dokumentation über Jahre. Ausnahmesituationen wie Kinderwunsch und Schwangerschaft wurden besonders berücksichtigt. Beachtung fand auch die Vorstellung des Paulusheim Osnabrück, wo es seit November 2004 eine Wohnpflegeeinrichtung für zur Zeit 26 jüngere neurologisch Erkrankte gibt, welche im Zusammenhang mit dem 2. Symposium durch Initiative der neurologischen Klinik im Klinikum Osnabrück und der Multiple Sklerose Kontaktgruppe Stadt und Landkreis Osnabrück ins Leben gerufen wurde. Nach Begrüßung durch PD Dr. P. Haller und seinem Nachfolger als Chefarzt Prof. Dr. F. Stögbauer im Klinikum Osnabrück begann Herr Dr. N. Putzki von der neurologischen Uniklinik Essen (MS Center) mit seinem Vortrag "Zielgerechter Therapiebeginn".
Herr Dr. Putzki hob hervor, dass einer der häufigsten Fehler bei der Behandlung der zu späte Therapiebeginn sei. So zeigte er, dass es einen zu frühen Therapiebeginn allein deshalb nicht gebe, weil sich dann axonale Schäden und Degeneration (MS-Progression) immer verzögerten und bei Einsatz von Interferonen ein deutlicher Krankheitsrückgang zu verzeichnen sei. Zwar sei noch fraglich, wie sich dies langfristig verhalte (Studie bis 2008 erwartet), jedoch ergäben sich ohne frühe Behandlung deutliche Nachteile bei der späteren Therapie. So komme es beispielhaft unter Avonex zu ca. 50% weniger Abbau im Gehirn, wobei die Verbesserung unter den Interferonen keinen Wirksamkeitsunterschied zeige; nur in zwei Studien sei Rebiff wirksamer gewesen. Bei IVIG (intravenös gegebene Immunglobuline) gebe es noch keine Vergleiche. Um die frühe medikamentöse Therapie insbesondere auch für ms-betroffene Kinder attraktiver zu machen, werden, um aufwendige Infusionen zunächst zu umgehen, ab 2007 vier neue orale Substanzen (Tabletten) erwartet; etwa 1% der MS-Patienten erkrankten bereits im Kindesalter, jedoch habe dies keine negativen Auswirkungen auf den Gesamtverlauf.

Prof. Dr. M. Pette von der Uniklinik Dresden stellte in seinem Vortrag "Verlaufsbeobachtung - Monitoring" ein Computerprogramm zur Durchführung standardisierter Verfahren einer computergestützten Verlaufsdiagnose mit der Möglichkeit großräumiger Aufbereitung vor. Er präsentierte sehr anschaulich die in Dresden entwickelte Anwendungssoftware, mit deren Hilfe nach Eingabe aller Daten der Anamnese durch fortlaufende Ergänzung der Schweregrad der Erkrankung erfaßt werden kann, z. B. automatisch der aktuelle Score (u.a. EDSS, MFCI) am Rechner ausgegeben werden kann. Den Patienten solle ermöglicht werden, ihren gesamten Krankheitsverlauf im Detail auf einer Diskette mit sich zu tragen und beim nächsten Arztbesuch oder Klinikaufenthalt ohne großen Aufwand den Behandlern zu übergeben; so könne die Wiederholung gleicher Untersuchungen bei verschiedenen Behandlern vermieden werden. Die Anwendungssoftware beim Behandler, aber auch beim Patienten am eigenen Rechner, könne graphisch den Verlauf darstellen und durch "Anklicken" ins Detail gehen, Zusammenfassungen mit unterschiedlichen Interpretationen führten zur Generierung von Arztbriefen, insgesamt seien Online- und Videohilfe gegeben. Wichtigste Voraussetzung sei die Kompatibilität der Software, die jedoch schon heute hoch sei (Datenim- und export problemlos möglich).
Das Programm (MSDS) stehe in einer Klinik- und einer Praxisversion zur Verfügung, die sehr ähnlich seien. Bereits heute nähmen in Deutschland 15 Unikliniken mit über 4.000 Patienten und ca. 100 neurologische Praxen teil. Dabei sei das Ziel die flächendeckende Vernetzung von Praxen und Kliniken zur MS-Dokumentation, so dass auf Anhieb aggregierte Daten (MS-Register) auch weltweit zur Verfügung stünden. Die bei der MS-Behandlung labortechnischen Untersuchungsergebnisse sollten in einer Bioprobendatenbank gesammelt werden und im weiteren die Multidiagnosefähigkeit ermöglichen. Weiter könne auch die Frage der heterogenen Entstehung von MS behandelt werden. Für die nähere Zukunft gehe es zunächst um den verbesserten Informationsfluss (Datentransfer über Patienten), überregionale Datensammlung und zunehmende Beratung bezüglich dieser Software. Die Software ist nicht kommerziell und frei erhältlich unter: www.neuro.med.tu-dresden.de.

Frau Dr. med. Windhagen vom Klinikum Osnabrück beschäftigte sich mit dem Thema "Kinderwunsch und Schwangerschaft als besondere Therapiesituationen". Aufgrund der Tatsache, das 2/3 aller MS-Patienten Frauen seien und sich die Krankheit meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr manifestiere, handele es sich um eine evidente Problematik, aber auch Männer könnten sich spezifischen Problemen gegenübersehen (z.B. Spastik der Beine, Erektionsstörung, geringe Libido). Dennoch habe die MS keinen Einfluss auf die Fruchtbarkeit und bringe auch auf lange Sicht für die Betroffenen nach der Schwangerschaft keine Nachtteile mit sich. Dem Neugeborenen begegne jedoch eine spezifische Wahrscheinlichkeitsverteilung bei der Frage, ob es selbst an MS erkranken könnte. So ändere sich die Wahrscheinlichkeit (WS) eines weißen Kindes, an MS zu erkranken von 0,2 % in der Normalbevölkerung (natürlich gleich der WS bei einem Adoptivkind) auf 3-5 %, wenn die Mutter betroffene Verwandte 1. Grades in der Familie habe; diese Wahrscheinlichkeit sinke bei Verwandten 2. Grades auf 1 %. Wäre ein Halbgeschwister der Mutter betroffen, hätte ein Kind eine WS von 1,3 %, auch an MS zu erkranken, und wäre das Geschwister zur Mutter ein eineiiger Zwilling, steige die WS für das Kind auf 33 %. Kinder von zwei an MS erkrankten Eltern hätten eine WS von 12,2 %, ebenso MS zu bekommen. Hieraus erklärte Frau Dr. Windhagen, dass dem Kinderwunsch auch bei MS-Patienten nichts im Wege stehe. Relevant sei vor allem der richtige Zeitpunkt einer Schwangerschaft, der durch eine stabile unbelastete Familiensituation und einen stabilen MS-Verlauf gekennzeichnet sein sollte. Während der Schwangerschaft könnten sich vorhandene Symptome verdeutlichen.
Zur Frage der medikamentösen Therapie während der Schwangerschaft unterschied Frau Dr. Windhagen in immunmodulatorische Medikation, Kortisonschubtherapie und Medikamente zur Symptombehandlung, wobei alle auch vor und nach der Schwangerschaft relevant seien. Bei imunmodulatorischen Medikamenten könne man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit prognostizieren, dass sie keine Erbgutschäden hervorruften. Einzig Mitoxantron sei 6 Monate vorher, während der Schwangerschaft und 6 Monate nachher kontraindiziert. Männer sollten, sofern sie ihre Familienplanung noch nicht abgeschlossen hätten, vor einer Behandlung mit Mitoxandron Spermien einfrieren, da es möglicherweise zur Unfruchtbarkeit kommen könnte (Tieffrieren von Spermium bisher bis zu einer Dauer von 21 Jahren nachgewiesen). Obwohl auch Azathioprin (Imurek) bei sehr langer Gabe bei Männern zur Unfruchtbarkeit führen könnte, sollte eine erfolgreiche Langzeittherapie (>10 Jahre) nur in begründeten Fällen abgebrochen werden. Die Gabe von intravenös gegebenen Imunglobulinen (IVGM) sei problemlos, jedoch die Wirksamkeit nicht nachgewiesen. Eine Kortisonschubtherapie sollte in einer Schwangerschaft sowie in der näheren zeitlichen Umgebung nur im Schubfall eingesetzt werden. Der Einsatz von Medikamenten zur Symptombehandlung sollte der individuellen Entscheidung im Einzelfall obliegen.
Frau Windhagen beschäftigte sich auch mit der Frage, welchen Einfluss die MS auf die Schwangerschaft habe sowie, welchen Einfluss die Schwangerschaft auf die MS habe. Zum ersteren zeigte schon eine 1998 von Confavreux et al. geführte sog. "Prims-Studie" (Pregnancy in Multiple Sclerosis), dass die Immunantwort der Schwangeren im letzten Drittel der Schwangerschaft außergewöhnlich niedrig sei (dies wäre auch vernünftig, da die Natur so die Abstoßung des Kindes aus dem Mutterleib verhindern würde). Da sich aber alle Experten weltweit mittlerweile darüber einig seien, dass MS eine Autoimmunkrankheit ist, bei der eben das Immunsystem das Nervensystem des Patienten "abstoße" und somit die Krankheit MS erzeuge, sei die besondere Frage nun, mit welchen Mitteln der Körper das Immunsystem während der Schwangerschaft herabdrücke. Eine europaweite Studie, die seit 2005 unter Kontrolle von Confavreux im Mäuseversuch stattfinde (künstlich erzeugte MS bei Mäusen) zeige evident, dass hierfür die weiblichen Sexualhormone verantwortlich seien. Besondere Hilfe nach der Schwangerschaft (Schubreduktion) gäben die intravenös gegebenen Immunglobuline (IVIG); hier zeige eine doppelblind geführte zweiarmige placebokontrollierte Studie, dass Dosierungsunterschiede die Wirksamkeit nicht beeinflussten.
Die Entbindung schwangerer MS-Patientinnen solle normal beim Gynäkologen erfolgen, eine Rückenmarksspritze zur Unterdrückung der Schmerzen bei der Entbindung habe keinen Einfluss auf die MS, ebenso habe das Stillen der Säuglings keinen Einfluss auf die MS.

Frau Prof. Dr. J. Haas vom Jüdischen Krankenhaus Berlin betreut ca. 3.500 MS-Patienten; sie beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit dem Thema "Eskalation - Deeskalation". Hierbei geht es um die Frage, wann der Arzt eine immunmodulatorische medikamentöse Therapie verstärken oder zurücknehmen solle. Die möglichen Medikamente trügen nachgewiesenermaßen alle zu einer Schubreduktion von ca. 30%, die Progression verlaufe unterschiedlich. Leider beginne die Immuntherapie immer zu spät.
Die eskalierende Immuntherapie vollzieht sich in drei Stufen. Zur ersten Stufe zählen alle zugelassenen MS-Medikamente, insbesondere die Interferone. Verstärkt wird dies durch Wechsel auf die zweite Stufe, wo statt der Interferone Mitoxandron oder Ciclophosphamid gegeben wird. Die weitere Eskalation führt auf der dritten Stufe zu Medikamenten, die sich noch im Versuchsstadium befinden, bzw. die noch nicht für die Behandlung von MS (wohl aber für andere auch ähnliche Krankheiten) zugelassen sind; dabei befinden sich weltweit sehr viele Medikamente in diesem sog. Off Label Use. Im besonderen interessierte das Auditorium die Frage der Finanzierung der im Off Label Use intravenös gegebenen Immunglobuline (IVIG). Trotzdem diese Medikation empfohlen und die Finanzierbarkeit durch die Krankenkassen faktisch "rechtlich" immer wieder bestätigt wird, wird die europaweite Zulassung zur Behandlung der MS voraussichtlich zwei bis drei Jahre dauern.
Bevor eskaliert wird, d.h. bevor eine höhere Behandlungsstufe angegangen wird, sollten mögliche Wechsel der Medikation innerhalb einer Stufe versucht sein. Dies kann auch durch "Add on", also der Kombination der Medikationen, wegen der Monotherapiezulassungen möglich, sein. Sofern deutlich sei, dass die Eskalation der Imuntherapie wirkungslos wäre, sollte man zurück zur Basistherapie oder zur Behandlung mit Imurek gehen, gegebenenfalls wurde die Basistherapie während der Eskalation nicht beendet. Sollte trotz aller Bemühungen die MS schlimmste Ausmaße annehmen, so könne dann in Schwerstfällen, insbesondere bei der kindlichen MS, eine Stammzellentransplantation als ultima ration vorgenommen werden. Durch ein besonders für den Patienten sehr aufwendiges Verfahren führt diese stammzellenindizierte Behandlung zur Erstellung eines neuen Blutsystems; in Deutschland wurden bisher ca. 160 Patienten so behandelt. Die internationale Anwendung dieser "Rettungstherapie" gebe es seit etwa sechs Jahren. Die Kosten dafür beliefen sich auf ca. 60.000,- Euro, für die Folgekosten sei jedoch unbedingt die Finanzierung durch die Krankenkassen notwendig, da diese für den Patienten unübersehbar sein könnten; die Ärzte in Deutschland sind gegen diese Folgekosten versichert. Bei diesem Verfahren handele es sich um die hämatologische Stammzellentherapie, die in Deutschland seit ca. 30 Jahren zugelassen ist, für die embrionale Stammzellentherapie gebe es Angebote in Russland und insbesondere Peking.

Abschließend referierte Herr PD Dr. Haller in seinem Vortrag über das Thema "Neue Therapieformen". Hier ging es im besonderen auch um jene Studien, die in Osnabrück bei Zulassungsanträgen forschend beigesteuert werden; die anschließende "Schlauen Runde" ging von diesem Thema fließend über.
Unter den Monoclonalen Antikörpern Rituximab, Alemtuzumab, Daclizumab und Natalizumab wurde das letzte in der MS-Therapie bekannt gewordene Antegren und jetzt benannte Tysabri als besonders vielversprechend bekannt. So zeigte sich in der Monotherapie ein doppelter Erfolg im Vergleich zu Betaferon, dabei ein drei bis viermal so guter Erfolg wie bei Avonex unter geringen Nebenwirkungen wie Kopfschmerz, Gelenkschmerz oder Ermüdbarkeit; z.B. reduzierten sich neue Läsionen nach MRT-Befund um 92%, fast 1/3 der Patienten zeigten keine Krankheitsaktivität. Da bei ca. 6% der Patienten die Wirksamkeit der Antikörper nach ca. 12 Wochen nachlasse, sei aber nicht jeder für diese herapie geeignet. Das Medikament zeigte bei Kombination mit Avonex oder Chemotherapie bei drei von 3.000 Patienten eine Progressive Multifunktionale Leukoencephalopathie (PML, bekannt bei HIV), so dass die europaweite Studie hierzu abgebrochen wurde; die "Entblindung" der Studie ergab jedoch, dass der Abbruch unbegründet war. Aufgrund der positiven Ergebnisse werde Antegren für die Monotherapie wohl zugelassen; nach neuesten Informationen steht dies in den USA kurz bevor.
Zum Einsatz von Cannabis bei der MS-Therapie erklärte Herr Dr. Haller zunächst, dass bei jedem Menschen Cannabiraide Bestandteile im Gehirn seien. Der besondere Einsatz habe beim Patienten Funktionsverbesserungen auf die Spastik zur Folge und erhöhe das Wohlbefinden. Verordnen würde er Cannabis bei einem EDSS größer gleich 7 und dann, wenn diese Therapie zu objektiven Verbesserungen führe; an der Einführung als Dauertherapie werde "noch gearbeitet". Die positiven Folgen einer solchen Medikation zeigten sich aber nur bei jedem zweiten Patienten. Botox werde bei Spastik eingesetzt, um Unannehmlichkeiten (z.B. Aduptorenspastik) zu verbessern. Es werde aber nur zur Behandlung bestimmter Muskeln gegeben und obliege einer Gesamtdosisgrenze. Sowohl Cannabis als auch Botox würden im Off Label Use gegeben.

Abschließend war zum allgemeinen Interesse zu erfahren, dass Herr Dr. Haller trotz seines Eintritts in den Ruhestand glücklicherweise dem Symposium weiter zur Verfügung stehen wird. So verabschiedeten sich alle Teilnehmer auf ein Wiedersehen zum 7. Osnabrücker MS-Symposium im Mai 2006.


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