Kindesmisshandlung verursacht Veränderungen im Gehirn
25.10.2002
(MF) Forschungsergebnisse zeigen, dass Misshandlungen und Traumatisierungen im frühen Kindesalter die Entwicklung des Gehirns derart beeinflussen, dass die Störungen im Erwachsenenalter nachzuweisen sind.

Borderline-Persönlichkeiten

Menschen mit dieser Störung sehen ihre Menschen nur in Schwarz und Weiß und können einen anderen Menschen nicht differenziert betrachten. Oft werden Personen regelrecht verehrt, tritt jedoch eine Enttäuschung zu dieser vormals verehrten Person ein, wird diese regelrecht bekämpft.

Die Betroffenen neigen zu Paranoia oder Psychosen und darüber hinaus extreme Wutausbrüche.

Sie haben meist intensive aber sehr instabile Beziehungen und ein Identitätsproblem. Es wird oft beobachtet, dass die Betroffenen versuchen durch Drogenmissbrauch sich selbst zu entfliehen, Schaden sich oft selber und neigen zum Suizid.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben belegt, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Verhaltens- störungen im Erwachsenenalter und früheren Misshandlungen (physisch, psychisch und sexuell) gibt. Bis weit in die 1990er Jahre hinein gingen die Fachleute davon aus, emotionale und soziale Störungen kämen durch psychologische Störungen zustande, in dem die frühkindlichen Misshandlungen zu inneren Abwehrmechanismen führen, die sich im Erwachsenenalter als selbstzerrstörerisch auswirken. Häufig beobachtete Folgen der Kindesmisshandlung sind Depressionen, Angst, Selbstmordgedanken und Drogenmissbrauch oder aber Angriffslust, Erregbarkeit und Straffälligkeit. Sehr frühe Misshandlungen führen meist zu Borderline-Persönlichkeiten.

Neuere Untersuchungen ergeben jedoch ein anderes Bild. Die Kindesmisshandlung findet in einer Phase statt, die für die Hirnentwicklung von einer entscheidenden Bedeutung ist. Das Gehirn wird in dieser Zeit entscheidend geprägt, schwere psychische und physische Belastungen hinterlassen unauslöschliche Spuren in Hirnstruktur und –funktion; die neurale Entwicklung wird unwiderruflich verändert.

Die verschiedenen frühkindlichen Misshandlungen (frühkindliche Stresssituationen) verändern die Entwicklung des limbischen Systems. Die untersuchten Erwachsenen mit einer entsprechenden Vorgeschichte (körperliche und sexuelle Misshandlungen) zeigen deutliche Anomalien im EEG (Elektroenzephalogramm). Bei der Kernspintomographie wurde eine Verkleinerung des Hypocampus und der Amygdala beobachtet. Bei weiteren Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass lediglich der linke Teil des Hypocampus verkleinert und der rechte Teil normal entwickelt war. Die linke Hemisphäre ist für die Wahrnehmung von Sprache zuständig, also die Wahrnehmung von Sprache und Kommunikation, in der rechten Hemisphäre werden vor allem räumliche Informationen verarbeitet. Menschen ohne frühkindlichem Stress nutzen beide Hemisphären, wenn sie unterschiedliche Erinnerungen abrufen. Personen mit frühkindlichem Stress aktivieren überwiegend die linke Hirnhälfte bei neutralen Erinnerungen und ihre rechte, wenn sie traumatische Ereignisse abrufen. Weitere Untersuchungen ergaben zudem, dass der Corpus Callosum (Balken) ebenfalls deutlich im Mittelteil verkleinert ist. Dieser Teil verbindet die beiden Hirnhälften. Allerdings zeigte sich hier ein geschlechtsspezifischer Unterschied. Bei Jungen zeigte sich, dass Vernachlässigung eine größere Wirkung hatte als anderen Misshandlungen; bei Mädchen hingegen wirkte sich sexueller Missbrauch am stärksten aus.

In Tierversuchen wurde nachgewiesen, dass Stress den Hypocampus schädigen kann. Stresshormone können die Gestalt der größten Neuronen deutlich verändern und sogar abtöten. Stress unterdrückt weiterhin die Neubildung der Körnerzellen, kleine Neuronen, die sich normalerweise nach der Geburt entwickeln. Somit gibt es eine biochemische Erklärung, für die beobachteten Hirnveränderungen.

Ist es legitim, von Hirnschädigungen zu sprechen?

Unser Gehirn ist derart angelegt, durch Erfahrung geprägt zu werden. Hier liegt der Schlüssel zu der enormen Anpassungsfähigkeit des Menschen. Extreme Not dürfte in früheren Zeiten eher die Normalität gewesen sein, wie historische Funde eindeutig belegen.

Das limbische System

Das limbische System ist eine Ansammlung von Hirnkernen, die eine entscheidende Rolle bei der Regelung von Emotionen und Gedächtnis spielen. Besonders wichtig sind der Hypocampus und die Amygdala, die unterhalb der Hirnrinde im Schläfenlappen liegen.

Der Hypocampus bestimmt, welche Informationen im Langzeitgedächtnis gespeichert werden und wird für die Widergewinnung und Bildung für verbale und emotionale Gedächtnisinhalte benötigt.

Die Amygdala filtert und interpretiert die ankommenden Sinnesdaten bezüglich ihrer Bedeutung für das Überleben und emotionaler Bedürfnisse, auch der emotionale Gehalt einer Erinnerung wird erzeugt - Gefühle, die mit Furcht und aggressiver Reaktion zusammen hängen.

Eine frühe Stresserfahrung erzeugt somit neurobiologische Effekte, die es dem Erwachsenen später ermöglichen, sich auch unter widrigen Umständen fortzupflanzen. Die beobachteten Hirnveränderungen sind eine Anpassung an eine feindliche Umgebung, weil sie bei Gefahr eine intensive Kampfbereitschaft oder Fluchtreaktion auslösen, auf eine Herausforderung kann aggressiv reagiert werden. Ohne frühkindlichen Stress und einer ausgewogenen Erziehung führt die Entwicklung zu einem weniger aggressiven und emotional ausgeglichenem Erwachsenen., einem sozialen Wesen, dass komplexe Beziehungen eingehen kann und ein kreatives Potential besitzt.

Werden Kinder frühkindlichem Stress ausgesetzt (Misshandlungen und –missbrauch, aber auch Krieg, Hunger und Seuchen), wird das Hirn der Kinder derart verdrahtet, damit sie auch in einer ihnen böswillig gesinnten Welt überlebensfähig sind; sie werden als Erwachsene ihr aggressives Verhalten der nächsten Generation aufprägen. Auf diese Weise pflanzt sich die Gewalt von einer Generation auf sie nächste fort.

Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen. Den westlichen Gesellschaften ist dieses zu einem gewissen Teil bereits gelungen, aber es ist nicht an der Zeit, sich auf dem bisher erreichten auszuruhen. Und der Kampf muss weltweit geführt werden (Kinderarbeit, Sextourismus etc). Kriege müssen aktiv verhindert werden. Es hilft niemanden, wenn eine Intervention nach bereits erfolgten Massakern stattfindet. Generell muss auch in unserer Gesellschaft Krieg und Gewalt geächtet werden. Denn wenn ein kindliches Gehirn erst einmal unter widrigen Umständen verdrahtet wurde, ist es bereits zu spät. Letztendlich erntet die Gesellschaft exakt das, was sie säht.


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