03.07.2005

Gleichheit ist relativ oder: Wirtschaft bestand schon immer aus Psychologie

(VS) Gleichheit lässt sich ökonomisch absolut und relativ betrachten. Der absolute Wert eines Geldscheines ist schon dann relativ, wenn man ihn mit dem Geld anderer Währungsordnungen vergleicht. Entscheidend ist aber nicht nur, welche Gütermengen mit dem Geld erworben werden können, wichtiger noch ist die Frage, welche Bedeutung das Individuum diesen Gütern beimisst. Und hier zeigt sich, dass materielle Dinge für jeden Menschen einen besonderen "Wert" haben.

Zwei ökonomisch scheinbar unterschiedliche Individuen, ein Bettler und ein Milliardär, finden zur selben Zeit an unterschiedlichen Orten auf der Straße einen 1.000-Euro-Schein. Im Augenblick des Findens sind beide an ihrem Ort alleine, es zeigt sich niemand, dem das Geld gehört und es sei dann legal, das Eigentum an dem Schein an sich zu nehmen. Sowohl Bettler als auch Milliardär seien hernach um 1.000,- Euro reicher. Damit haben beide absolut einen gleichen Vermögenszuwachs erhalten, relativ zeigt sich jedoch ein Unterschied.

Relativ bedeutet Gleichheit nach Jeremy Benthams "Utilitarism" (Lehre vom Glück) die Gleichheit vom Grenznutzen bei den Individuen. Bezogen auf das o.g. Gleichnis ergeben sich für beide Individuen unterschiedliche Grenznutzen, so dass die Gleichheit hier nicht gegeben ist. An der Grenze seines Vermögens erhält der Bettler einen Zuwachs, der, verglichen mit seinem sonstigen Vermögen, sehr groß ist. Der Bettler wird ein starkes Glücksmoment empfinden und sich noch den restlichen Tag, vielleicht über Tage bis Wochen, über diesen Zuwachs freuen; vielleicht bedeutet das Geld für ihn einen Neuanfang in ein normales Leben. Anders beim Milliardär. Dieser sei es beispielhaft gewöhnt, jedes Essen mit einer Serviette im Wert von 1.000,- Euro zu begehen, die hernach entsorgt würde. Als er den Geldschein an der Grenze seines Vermögens findet, entsteht in ihm deshalb nur ein geringes Glücksmoment. Der Vermögenszuwachs hat auf sein gegenwärtiges wie auch zukünftiges Leben deshalb so gut wie keinerlei positive Auswirkung. Der Milliardär ist vielleicht sogar dazu geneigt, den Schein gar nicht erst aufzuheben, weil ihm dies, gemessen am Glückszuwachs, als zu aufwendig erscheint. Er würde beispielhaft ein gleiches Glück wie der Bettler nur dann erleben, wenn er bei Günter Jauch in "Wer wird Millionär" in einem gemütlichen Ambiente eine Million Euro gewinnen würde. Dann, und erst dann, wäre sein Glückszuwachs an der Grenze seines Vermögens genauso groß wie der des Bettlers, d.h. der Grenznutzen eines zusätzlichen Vermögens wäre für beide gleich und erst dann, und nur dann, wäre Gleichheit zwischen beiden hergestellt.

Es zeigt sich also, dass sich hier die Gleichheit der Dinge nicht auf die Bedeutung der Dinge für das Individuum überträgt. Auch wenn dieses Beispiel extrem ist, so lässt sich doch über das Verfahren der vollständigen Induktion schliessen, dass die Bedeutung der Dinge bei allen Individuen in den meisten Fällen unterschiedlich ist; dies ergibt sich logisch aus der Annahme individueller Nutzenfunktionen (Glücksempfindungsmaße). Nur in bestimmten Ausnahmesituationen kann man eine Gleichheit der Bedeutung von Dingen annehmen. Eine solche Situation wäre z.B. der Zustand des Verdurstens in einer Wüste und die Bedeutung von Wasser hierbei. Allerdings wäre, abgesehen von reflexartigen Aspekten, der Grenznutzen des Wassers schon dann für zwei Verdurstende unterschiedlich, wenn von zweien nur einer den Selbstmord sucht.
In ähnlichem Sinne ist auch der Hinweis zu interpretieren, dass die Nutzen materieller Grundbedürfnisse des Lebens (Unterkunft, Kleidung, Nahrung) bei Individuen ähnlich seien. Und aus diesem Grund ist es äußerst fragwürdig, Bedürftige von der staatlichen Sozialhilfe mit gleichem Budget auszustatten. Im utilitaristischen Sinne führt dies immer dazu, dass individuell unterschiedlich "Glück" empfunden wird, was die Anreizwirkung zur Aufnahme einer Beschäftigung zur Steigerung des Budgets und eben des damit verbundenen "Glücks" relativiert. Die Folgerung, deshalb die Sozialhilfe auf ein möglichst "glückloses" Minimum herabzufahren, zieht jedoch nur dann, wenn:
  1. Beschäftigung zur Steigerung des kollektiven Wohlstands notwendig ist
  2. Die Entscheidenden sadistisch sind
  3. Die Gesetzeslage dies zulässt.
In Deutschland ist keiner dieser Aspekte gegeben.
Hier sei erwähnt, dass nach Kenntnis des Autoren die marxistisch-leninistische Lehre und die meisten ihrer Ausläufer die Theorie des Grenznutzens nicht berücksichtigen; es ist leicht einzusehen, dass genau hier einer der Gründe für das Scheitern des Kommunismus zu finden ist. Wenn der kommunistische Staat in der Lage gewesen wäre, die Güterverteilung nicht anhand gleicher Mengen, sondern anhand gleicher Grenznutzen zu gewährleisten und zwar so, dass keine Willkür herrschte, hätte bei effizienter Produktion das Paradies auf Erden bestanden.

Wirtschaft bestand schon immer aus Psychologie
Die Mentalität der Individuen wird in der Ökonomie unterschieden in deren Risikobereitschaft. Hierbei gibt es grundsätzlich drei Typen: Risikoaversion, Risikoneutralität und Risikofreude. Angewendet wird diese Theorie auf Investoren, jedoch besitzt jedes Individuum eine Einstellung zum Phänomen des Risikos. Dabei ist Risiko definiert als "die mit einer (wirtschaftlichen) Handlung verbundene Verlustgefahr bzw. Gewinnchance." [1] Dabei definierte Frank H. Knight 1912 Risiko so, dass die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ergebnisse möglicher Handlungen bekannt ist.
Abhängig von der individuellen Risikobereitschaft weisst die menschliche Nutzenfunktion (s.o.) unterschiedliche Formen auf (konkav vs. linear vs. konvex). So lässt sich ein Nutzenzuwachs (vergl. Geldschein v. o.) unterschiedlichen Bedeutungsmaßen zuweisen. Ein risikofreudiges Individuum misst dem Nutzen seines ersten Gutes den vergleichsweise geringsten Nutzen (Glück) zu, je mehr Güter dazukommen, desto stärker wächst pro Gut sein Glück (Nutzen). Anders beim risikoneutralen Individuum. Hier wächst das Glück mit jedem Güterzuwachs in kontinuierlich gleichem Ausmaß. Und beim risikoscheuen Individuum nimmt der Nutzenzuwachs mit jedem hinzukommenden Gut ab. So lässt sich schliessen, dass Menschen mit einem starken Drang nach Reichtum risikobereite Wesen, solche mit einem eher satisfizierenden Charakter eher risikoscheue Wesen sind.
Nun wird jeder Mensch jedoch zugeben, dass ihm in Situationen weniger Risiko lieber sei als gleichviel oder mehr Risiko im Leben. Insofern kann man Individuen generell als eher risikoscheu bedenken. Dies entspricht auch dem 1. Gossenschen Gesetz [2] vom abnehmenden Grenznutzen, wonach zunehmender Reichtum wie beim o. g. Milliardär immer weniger an zusätzlichem Nutzen (Glück) bedeutet, bis zuletzt Sättigung eintritt, und welches in der ökonomischen Theorie als Grundsatz anerkannt ist. Wenn dem aber so ist, dass Menschen im allgemeinen eher risikoscheu sind, dann kann man auch die Idee der Satisfizierung in die ökonomische Theorie einführen als oberste Zielsetzung jenseits von Gier und Neid (beides i. d. R. theoretisch in der Ökonomie ausgeschlossen), d.h. dass insbesondere die Maximierung als Optimierungskalkül (z.b. Gewinnmaximierung) ersetzt wird durch das Ziel der Befriedigung als eine zu erreichende Größe.
Diese Theorie wird in der ökonomischen Theorie weltweit diskutiert unter dem Begriff des "Satisfying" und es scheint auch in Deutschland an der Zeit zu sein, sich mit dem Erreichten einmal zufrieden zu geben.

Literatur und Anmerkungen:
[1] Woll Wirtschaftslexikon 7. Auflage
[2] Erstes Gossensches Gesetz ("Die Größe ein und desselben Genusses nimmt, wenn wir mit der Bereitung des Genusses ununterbrochen fortfahren, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt.")


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