50 Jahre danach - der 17. Juni 1953

17.06.2003

(HN) Volksaufstand hieß es im Westen, faschistischer Putschversuch war die offizielle Lesart im Osten. Viel ist bislang über die Geschehnisse jener Tage gesprochen und geschrieben worden. Den meisten von uns sind diese Tage nicht aus eigener Erinnerung im Gedächtnis haften geblieben. Kaum jemand von uns war dabei, als in Ostberlin und in ca. 500 Städten der DDR Menschen aller sozialen Schichten und aller Altersgruppen auf die Straße gingen, um gegen Normerhöhungen zu protestieren.

Zum damaligen Zeitpunkt, 8 Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges, war der kalte Krieg zwischen Ost und West voll entbrannt. Im Westen Deutschlands hatte , nicht zuletzt durch die Hilfe der USA, ein gewaltiges Aufbauwerk begonnen. Beide deutsche Staaten waren fest in die jeweiligen politischen Blöcke eingebunden. Während im Westen die soziale Marktwirtschaft erhardtscher Prägung zu greifen begann, das Lebensniveau spürbar stieg, befand sich die DDR in einer wirtschaftlich und politisch ungeheuer komplizierten Situation. Die ohnehin zu großen Teilen dem Krieg zum Opfer gefallene Wirtschaft kämpfte um nackte Überleben. Dabei spielten die Reparationsleistungen an die Sowjetunion eine nicht unwesentliche Rolle. Die nach dem Krieg von Moskau installierte Führungsriege unter Walter Ulbricht hatte die Zwangsvereinigung von SPD und KPD vollzogen, die DDR als Staat gegründet und ein politisches System errichtet, das von der SED beherrscht wurde. Die politische Führung der DDR verstand sich in einer Art und Weise mit der Sowjetunion und ihrer KPdSU verbunden, die aus heutiger Sicht unfassbar erscheint. Als Beispiel hierfür sei das Kommuniqué der 10. Tagung des ZK der SED (20. - 22.11.1952) angeführt, in dem es u.a. heißt: "... Die Beschlüsse des XIX. Parteitages der KPdSU sind das Rüstzeug für alle kommunistischen und Arbeiterparteien. Ausgehend von den wegweisenden Lehren der genialen Arbeit des Genossen Stalin ... und der Rede des Genossen Stalin auf dem XIX. Parteitag der KPdSU begründete Genosse Ulbricht die nächsten Aufgaben der Partei. ...
In Darlegung der Wirkung des von Genossen Stalin entdeckten ökonomischen Grundgesetzes des modernen Kapitalismus und des ökonomischen Grundgesetzes des Sozialismus wies Genosse Ulbricht nach, dass wir bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus das klassische Werk des Genossen Stalin zur Grundlage unserer Arbeit nehmen müssen...."
Nach dem Willen der SED-Führung ging es um die Stärkung der Schwerindustrie, um die Kollektivierung der Landwirtschaft nach sowjetischem Vorbild und um die Zurückdrängung jedweder sogenannter kapitalistischer Einflüsse. Man hatte jedoch die Rechnung ohne den Faktor Mensch gemacht. Die Menschen in der damaligen DDR empfanden zu großen Teilen ihre Lebensverhältnisse im Vergleich zu denen in der BRD als schreiendes Unrecht. Die zum 1. April 1953 beschlossenen Normerhöhungen und Preissteigerungen brachten das Fass zum Überlaufen. Bereits von Januar 1951 bis April 1953 flüchteten 447.000 Einwohner der DDR in die BRD und nach Westberlin, was verheerende Auswirkungen auf die Wirtschaft hatte. In einem Dokument ohne Datum der Parteiführung der KPdSU wird eingestanden, dass "unter den breiten Massen der Bevölkerung, darunter auch unter den Arbeitern, Bauern und der Intelligenz eine ernste Unzufriedenheit in Bezug auf die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die in der DDR durchgeführt werden, zu verzeichnen ist." Alle Versuche, die verfehlte Wirtschaftspolitik ideologisch zu rechtfertigen, schlugen fehl. Aus vereinzelten Protesten wurden Streikandrohungen, die in einer breiten Streikbewegung mündeten. Angesichts der explosiven Stimmung in der Bevölkerung hatte der Ministerrat der DDR noch am 11. Juni 1953 durch verschiedene Beschlüsse versucht, die Lage zu beruhigen.
Das Neue Deutschland berichtete am gleichen Tage: "Der Ministerrat hat ... eine Anzahl von Maßnahmen beschlossen, durch welche die auf den verschiedensten Gebieten begangenen Fehler der Regierung und der staatlichen Verwaltungsorgane korrigiert werden. Durch die jetzt vom Ministerrat beschlossenen Maßnahmen wird die Verbesserung der Lebenshaltung der Arbeiter und der Intelligenz, der Bauern und Handwerker und der übrigen Schichten des Mittelstandes eingeleitet." Kernstück der Maßnahmen war die Aufhebung der Beschränkung für die Ausgabe von Lebensmittelkarten, die Zurücknahme von Preiserhöhungen in den Läden der staatlichen Handelsorganisation (HO) für zuckerhaltige Erzeugnisse, die Aussetzung von Zwangsmaßnahmen zur Eintreibung von Rückständen von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen gegenüber Bauern, Handwerkern und privaten Betrieben, die Rückgabe solcher Betriebe an die Eigentümer und die Gewährung kurzfristiger Kredite. Man entschloss sich sogar, sogenannten Republikflüchtlingen, die freiwillig zurückkehrten, die Rückgabe ihres entzogenen Eigentums zu versprechen. Allerdings findet sich in den genannten Beschlüssen kein Wort zu den Normerhöhungen. Die in letzter Stunde eingeleiteten Maßnahmen konnten nicht zum Erfolg führen. Die Streikbewegung war nicht mehr zu bremsen. Immer wieder gingen die Menschen auf die Straße, um zu demonstrieren. Dabei ging es sehr schnell nicht nur mehr um die Rücknahme von Normerhöhungen. Der Ruf nach Freiheit und Menschenrechten war unüberhörbar. Auf dem Höhepunkt der Proteste am 16. und 17. Juni ging es für die SED-Führung um die Existenz. Der Ausgang ist bekannt, Polizei, kasernierte VP und sowjetische Truppen schufen Friedhofsruhe. Um nicht in den Verdacht einseitiger Betrachtungsweise zu geraten: Es gab auch erhebliche Ausschreitungen gegenüber Mitgliedern der SED, bei denen Tote zu beklagen waren. Es gab auch Plünderungen und sinnlose Zerstörungen. Es hatte sich aber gezeigt, dass die Diktatur des Proletariats sich gegen das Proletariat selbst richtete und nur somit die Macht der SED gesichert werden konnte. Bezeichnend auch für die globalen Machtverhältnisse war auch, dass man im Westen nicht über verbale Solidaritätsbekundungen nicht hinaus kam. Die Befürchtung, dass eine direkte Konfrontation im direkten Einflussbereich der Sowjetunion einen neuen Weltkrieg auslösen könnte, war zu groß.

In der DDR hat es eine Aufarbeitung des 17. Juni nie gegeben. Im Protokoll der Tagung des Politbüro des ZK der SED vom 21. Juni 1953 heißt es lakonisch: "Den Lohnabrechnungen sind ab sofort Normen, die am 1.4.1953 Gültigkeit hatten, zu Grunde zu legen." Man ging zur Tagesordnung über. Aber Karl Eduard von Schnitzler, im Osten wegen seiner späteren Fernsehsendung "Der schwarze Kanal" Kanal-Ede genannt, äußerte in seiner schon damals ausgeprägten Art in einer Rundfunksendung am 18.06.1953: "Es ging nicht um Normen, nicht um die Verbesserung des Lebensstandards, nicht um eine -wie immer geartete - Freiheit, sondern unter Missbrauch des guten Glaubens eines Teils der Berliner Arbeiter und Angestellten, gegen grobe Fehler bei der Normerhöhung mit Arbeitsniederlegung und Demonstrationen antworten zu müssen, wurde von bezahlten Provokateuren, vom gekauften Abschaum der Westberliner Unterwelt ein Anschlag auf die Existenz, auf die Arbeitsplätze, auf die Familien unserer Werktätigen versucht."

Die Opfer des 17. Juni sind - so jedenfalls mein Eindruck - sehr schnell aus dem Gedächtnis und dem Bewusstsein der Menschen in Ost und West verschwunden. Wir sollten uns ihrer aus Anlass des 50. Jahrestages des 17. Juni wieder erinnern.

(Alle verwendeten Zitate entstammen der Dokumentensammlung des Projektes "17. Juni 1953" der Bundeszentrale für politische Bildung, DeutschlandRadio und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.)

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